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Als weitere Reaktion auf das „Dioxin-Geschehen des Jahres 2010/Anfang des Jahres 2011“ und den EHEC-Skandal [70] im Mai 2011 wurden durch Art. 11–13 des Dritten Gesetzes zur Änderung des Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuches sowie anderer Vorschriftenvom 22.5.2013[71] (3. ÄndG) die Straf- und Bußgeldvorschriften des Lebensmittelstrafrechts wiederum ergänzt. Das Gesetz diente zunächst der Sanktionsbewehrung der Verordnung (EU) 11/2011 über Materialien und Gegenstände aus Kunststoff, die dazu bestimmt sind, mit Lebensmitteln in Berührung zu kommen(PIM)[72]. Regelungsgegenstand sind insofern also insbesondere in Lebensmittelverpackungen verwendete Kunststoffe. Zudem wurde durch dieses Gesetz eine mit Kriminalstrafe bewehrte Vermögenshaftpflichtversicherungspflichtfür Futtermittelunternehmer eingeführt, die bestimmte Ausstoßmengen überschreiten. Das LFGB ist zum 3.6.2013 in seiner Neufassung bekannt gemacht worden.[73] Mit Wirkung zum 1.7.2017[74] wurden die Strafvorschriften zur Sanktionierung des Verbots aus § 18 LFGB (§ 58 Abs. 1 Nr. 9, 10 LFGB), des Verfütterns von bestimmten tierischen Fetten an Wiederkäuer, aufgehoben, weil auch § 18 LFGB gestrichen wurde. Das Gesetz zur Neuordnung des Rechts zum Schutz vor der schädlichen Wirkung ionisierender Strahlung[75] brachte jedoch neue Strafvorschriften zum vorbeugenden Gesundheitsschutz vor radioaktiv belasteten Lebens- und Futtermitteln in Umsetzung des europäischen Atomrechts (§ 59 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 3a und Nr. 8 LFGB).
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Ab dem 13.12.2014 gilt in den Mitgliedstaaten die EU-Verordnung 1169/2011, die sog. Lebensmittel-Informationsverordnung(LMIV), als unmittelbar geltendes Recht. Diese Verordnung beinhaltet Vorgaben zur besseren Lesbarkeit und klaren Kennzeichnung von Lebensmitteln. Die wichtigste Änderung im Kontext des Lebensmittelstrafrechts bezieht sich auf § 11 Abs 1 LFGB. Durch das Art. 3 Nr. 6 des Dritten Gesetzes zur Änderung des Agrarstatistikgesetzes[76], das u.a. der Integration der LMIV in das LFGB dient, wurden die detaillierten Vorschriften über irreführende Aufmachung und Werbung für Lebensmittel in § 11 Abs. 1 LFGB durch Verweise auf Art. 7 und 36 LMIV ersetzt. Damit änderte sich der Anwendungsbereich des § 58 Abs. 1 Nr. 7 LFGB und § 60 Abs. 2 Nr. 1 LFGB wurde aufgehoben, weil die Vorschrift obsolet geworden ist (vgl. Rn. 396). Angesichts dieser Entwicklung ist die kodifikatorische Gesamtverantwortung für die Ausgestaltung des Lebensmittelrechts weitestgehend auf den Unionsgesetzgeber übergegangen. Entsprechend sind alle wichtigen Grundsätze des Lebensmittelrechts mittlerweile europäisch normiert, nicht selten in unmittelbar geltenden Verordnungen, und die nationalen Gesetze haben nur noch lückenfüllende Funktion: sie stellen eigentlich kein Gesetzbuch für das Lebensmittelrecht dar. Damit stellt sich aber für die Ausgestaltung des Lebensmittelstrafrechts in den Mitgliedstaaten der EU die Frage, wie dem Wandel des Lebensmittelrechts hin zu einem europäischen Risikoverwaltungs- und Verbraucherschutzrecht Rechnung getragen werden kann und sollte.[77]
III. Das Lebensmittelstrafrecht im System des Strafrechts
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Das Lebensmittelstrafrecht nimmt im System des Strafrechts grundsätzlich keine Sonderstellung ein. Hier gelten nach § 1 EGStGB alle Vorschriften des Allgemeinen Teils des StGB. Ferner sind die zum allgemeinen Strafrecht entwickelten allgemeinen Lehren wie die Regeln über Fahrlässigkeit, Garantenstellung, objektive Zurechnung und Zumutbarkeit normgemäßen Verhaltens sowie die Irrtumslehre anwendbar. Die Verfolgung von Ordnungswidrigkeitenwird durch das OWiG bestimmt. Ferner können neben den §§ 58 ff. LFGB u.a. Strafvorschriften des StGB(Körperverletzung, Tötung, Betrug, Bestechung und Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr etc.) einschlägig sein. Strafvorschriften des Lebensmittelstrafrechts finden sich außerhalb des LFGB auch in Nebengesetzen, so in § 7 Lebensmittelspezialitätengesetz und § 8 Milch- und Margarinegesetz sowie in einer Reihe von Rechtsverordnungen.[78]
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Das Lebensmittelstrafrecht ist als Blankettstraf- und -bußgeldrecht ausgestaltet, das außerstrafrechtliche Vorschriften in Bezug nimmt; es enthält mithin Straf- und Bußgeldvorschriften, die die Ausfüllung des Tatbestandes einer anderen in Bezug genommenen Bestimmung desselben Gesetzes, anderer Gesetze oder des Unionsrechts überlassen.[79] Bei Blankettgesetzen wird auf andere positivgesetzliche Rechtsnormen verwiesen, die mit den blankettausfüllenden Normen zusammengelesen werden müssen, damit sich ein vollständiger Straf- oder Ordnungswidrigkeitentatbestand ergibt.[80] Als Ergänzungen kommen Bundes- und Landesgesetze, Rechtsverordnungen, auch solche der Europäischen Gemeinschaft bzw. Europäischen Union, sowie Satzungen und Verwaltungsvorschriften in Betracht. In aller Regel wird in Strafnormen nicht nur auf die zur Zeit des Normerlasses geltenden Regeln verwiesen, sondern auf die jeweils geltenden Normen ( dynamische Verweisungen).[81] Der Begriff des Blankettgesetzes ist zuweilen nur schwer vom Tatbestand mit (rechts)normativen Merkmalen abzugrenzen.[82] Diese Differenzierung hat jedoch verfassungsrechtlich (Art. 103 Abs. 2 GG) und im Hinblick auf die strafrechtliche Irrtumslehre ( Rn. 78 ff.) große Bedeutung.[83]
a) Lebensmittelstrafrecht als Blankettstrafrecht
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Im Strafrecht wird zwischen echten Blankettgesetzen, bei denen die Ausfüllung einem anderen Normgeber überlassen wird, und unechten Blankettgesetzen, die auf Vorschriften desselben Normgebers verweisen, differenziert.[84] Soweit also in den §§ 58 ff. LFGB auf Verbote des LFGB verwiesen wird, handelt es sich um unechte, bei Bezugnahmen auf Rechtsverordnungen oder unmittelbar geltende Rechtsakte des Europarechts um echte Blankettvorschriften.[85]
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Die unechten Blankettvorschriftensind grundsätzlich verfassungsrechtlich unbedenklich, weil sie auf formelle Gesetze verweisen und sich der abstrakte Pflichtenverstoß sowie das geschützte Interesse aus diesem Gesetz ergeben, sofern sich der konkrete Pflichtenumfang zumindest durch Auslegung ermitteln lässt.[86] Das Hineinlesen der Bezugsnorm in den Straftatbestand stellt eine Norminterpretation dar, so dass sich dabei ergebende Unsicherheiten insbesondere bei Irrtümern zu berücksichtigen sind.[87] Ferner ist die sich ergebende Gesamtstrafvorschrift an Art. 103 Abs. 2 GG zu messen.[88]
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Soweit die Strafvorschriften der §§ 58 und 59 LFGB als echte Blanketttatbeständeauf nationale Rechtsverordnungenverweisen, ist deren Zulässigkeit durch Art. 103 Abs. 2 und Art. 80 GG begrenzt.[89] Zwar können nach dem materiellen Gesetzesbegriff auch Rechtsverordnungen Gesetze im Sinne des Gesetzlichkeitsprinzips sein.[90] Dies ließe es zu, dass der Gesetzgeber dem Verordnungsgeber aufgibt, die strafbare Verhaltensweise zu umschreiben, so dass der Gesetzgeber allein den durch die Strafvorschrift geschützten Wert bestimmen muss. Einem solchen Verständnis des strafrechtlichen Gesetzesvorbehalts steht jedoch entgegen, dass der demokratisch legitimierte Gesetzgeber verpflichtet ist, eine Grundentscheidung über die Strafvorschrift zu treffen, und dem Verordnungsgeber lediglich die Spezifizierungdes Sanktionstatbestandesüberlassen darf.[91] Daher bedarf es nicht nur der Bestimmung des geschützten Werts(i.S. e. Rechtsguts oder Interesses), sondern auch der Festlegung der strafbaren Verhaltensweisendurch ein förmliches Gesetz, um dem Gesetzlichkeitsprinzip Rechnung zu tragen und nicht die objektiv-individuelle Vorhersehbarkeit der Strafbarkeit für den Bürger zur bloßen Fiktion werden zu lassen.[92] Eine Strafvorschrift, die dem Verordnungsgeber die Umschreibung der strafbaren Handlung gänzlich überlässt, ist verfassungswidrig.[93]
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