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Nach h.M.[94] sind Verweisungen auf unmittelbar geltende europäische Rechtsaktei.S.v. Art. 288 Abs. 2 AEUV[95] – auch dynamische Verweisungen ( Rn. 48) auf die jeweils geltende Fassung[96] – zulässig, soweit durch die gesetzgeberische Grundentscheidung der Rahmen der Strafbarkeit bestimmt ist und nur dessen Ausfüllung dem Unionsrecht überlassen wird.[97] Solche Verweisungen sind insofern wie innerdeutsche Verweisungen zu behandeln.[98] Grundsätzlich sind auch statistische Verweisungen auf Richtlinien des Gemeinschaftsrechts möglich.[99]
Hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Maßstäbe, an denen die Bezugsnorm gemessen werden muss, ist zu differenzieren:
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Eine Verknüpfung der tatbestandsmäßigen Handlung mit der in Bezug genommenen EU/EG-Verordnunglässt einen unions-/gemeinschaftsrechtsakzessorischen Tatbestand entstehen, der den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG genügen muss, so dass die Verweisung nur für den jeweils in Bezug genommenen Rechtsakt, nicht aber für nachfolgende Rechtsakte gilt, selbst wenn diese inhaltlich identisch sind.[100] Mit dem Bestimmtheitsgrundsatz und dem Demokratieprinzip ist es ferner nicht vereinbar, Änderungen im Gemeinschafts- oder Unionsrecht durch nationale Ermächtigungsklauseln an den Verordnungsgeberaufzufangen, die zur Vermeidung von leer laufenden Strafvorschriften deklaratorische Anpassungen von Gesetzen an das Europarecht im Wege der Rechtsverordnung ermöglichen, wie dies in § 58 Abs. 3 LFGB geschehen ist.[101] Verweist das nationale Strafrecht unmittelbarauf eine Vorschrift einer EU-Verordnung, so ist insofern aufgrund des Vorrangs des Unionsrechts der Bestimmtheitsgrundsatz des Unionsrechts[102] (Art. 49 Abs. 1 S. 2 Grundrechtecharta der Europäischen Union [GR-Charta]) zu beachten, dessen Auslegung dem EuGH und grundsätzlich nicht dem BVerfG zukommt.[103]
b) Bestimmtheit von Verweisungsketten und unionsrechtlichen Programmsätzen
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Ein weiterer Problembereich ergibt sich im Lebensmittelstrafrecht durch Verweisungsketten und Verweisungen auf unionsrechtliche Programmsätze.[104] Wenn die Strafvorschrift (§ 58 Abs. 1 Nr. 1 LFGB) auf ein lebensmittelrechtliches Verbot (§ 5 Abs. 1 S. 1 LFGB) verweist, das eine EG-Verordnung (Art. 14 Abs. 2 lit. a BasisVO) in Bezug nimmt, können extrem unübersichtliche Straftatbestände entstehen, die Zweifel im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Bestimmtheit[105] aufwerfen und eine restriktive verfassungskonforme Auslegung erfordern können.[106] Bei dem Verweis auf Art. 14 Abs. 2 lit. a BasisVO ergibt sich diese Unbestimmtheit ferner daraus, dass die Lebensmittelsicherheit auch im Hinblick auf „die Auswirkungen auf nachfolgende Generationen“ bewertet werden soll. Ein solches Tatbestandsmerkmal genügt den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG nicht, weil das Art. 14 Abs. 2 lit. a BasisVO zugrunde liegende Vorsorgeprinzip aufgrund seiner strukturell notwendigen Unbestimmtheit kaum in das Strafrecht integriert werden kann.[107] Ebenso wenig wie auf eine Vorschrift, die so vage auf die Vorsorge abstellt, kann im Strafrecht auf europarechtliche ProgrammsätzeBezug genommen werden, um die Strafbarkeit zu begründen: Die Pflicht, den Verbraucher im Rahmen einer Rückrufaktion „effektiv und genau über den Grund einer Rücknahme zu informieren“ (Art. 19 BasisVO), begründet per se noch keine strafrechtliche Garantenstellung.[108]
c) Bezugnahme auf behördliche Verfügungen und Anordnungen
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Das Lebensmittelstrafrecht stellt in einigen Strafvorschriften auch das Zuwiderhandeln gegen behördliche Anordnungenunter Strafe. Zwar handelt es sich hierbei nicht um Blankettvorschriften; dennoch muss der Gesetzgeber in der Strafvorschrift selbst die wesentlichen Entscheidungen über die Verbotsmaterie und das strafbare Verhalten treffen ( Rn. 54); er darf der behördlichen Verfügung oder Anordnung lediglich die Spezifizierung der Verhaltensnorm zuweisen:[109] Die Ermächtigung der Verwaltungsbehörde zum Erlass des der Strafbarkeit zugrunde liegenden Verwaltungsakts muss dessen Inhalt, Gegenstand und Zweck sowie das Ausmaß so bestimmen, dass der Eingriff für den Betroffenen grundsätzlich vorhersehbar ist.[110] Der Gefahr, dass hierdurch mittelbar Ungehorsam gegen Verwaltungsanordnungen sanktioniert wird,[111] kann nur dadurch begegnet werden, dass Art und Umfang des Verwaltungsakts formalgesetzlich bestimmt sind, soweit der Verstoß gegen die Verhaltenspflicht strafbar sein soll;[112] zudem muss der Verwaltungsakt selbst hinreichend bestimmt sein.[113]
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Kein zulässiger Verweisungsgegenstand sind behördliche Auskünfte, Warnhinweiseund Verlautbarungen, weil es schon an einem verbindlichen Regelungsinhalt fehlt. Solche Rechtsakte können lediglich Auswirkungen auf Vorsatz, Fahrlässigkeit oder Schuld haben.[114]
d) Dynamische Verweisungen
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Das BVerfG akzeptiert auch dynamische Verweisungen auf die jeweils geltenden Rechtsakte als mit Art. 103 Abs. 2 GG konform.[115] Der Gesetzgeber muss jedoch auch hier die Verbotsmaterie selbst formulieren und darf nur die Spezifizierung delegieren.[116] Dies gilt grundsätzlich auch für Verweisungen auf das Unionsrecht,[117] jedoch werden hier z.T. nur statische Verweisungen für zulässig gehalten.[118]
e) Rückverweisungs- oder Öffnungsklauseln
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Im Lebensmittelstrafrecht finden sich in § 62 Abs. 1 LFGB sog. Öffnungs-oder Rückverweisungsklauseln, auf die in §§ 58 Abs. 3, 59 Abs. 3 und § 60 Abs. 4 LFGB Bezug genommen wird. Rückverweisungsklauseln dienen dem Zweck, nationale Gesetzesverfahren zum Nachvollzug von Änderungen des europäischen Rechts zu vermeiden und leerlaufende Verweise auf unmittelbar geltende Rechtsakte der Europäischen Union zu verhindern, indem der Verordnungsgeber (das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft [BMEL]) zur selbstständigen Festlegung sanktionsbewehrter Ge- und Verbote und damit zur Schließung von Sanktionslücken ermächtigt wird.
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Diese Rückverweisungsvorschriften sollen anwendbar sein, soweit die neue gemeinschafts- oder unionsrechtliche Vorschrift und die in Bezug genommenen nationalen Ge- und Verbote den gleichen Regelungsgehaltaufweisen und das gleiche Unrecht erfassen. Dies soll keine Wortlautidentität voraussetzen, sondern lediglich Unrechtskontinuität, so dass der relevante Sachverhalt sowohl unter der früheren als auch unter der neuen Rechtslage dem Verbot unterfällt. Dies soll auch bei mehrfacher Änderung des Unionsrechts gelten, nicht aber, wenn ein „unionsrechtlicher Überhang“ [119] besteht.[120]
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Das Lebensmittelstrafrecht enthält zwei Arten von Rückverweisungen:Zum einen kann in der Rechtsverordnung auf solche Verbote aus unmittelbar geltenden Rechtsakten der EG bzw. EU verwiesen werden, die mit den in Strafvorschriften des LFGB in Bezug genommenen formalgesetzlichen Ge- und Verboten inhaltlich identischsind (vgl. etwa § 58 Abs. 3 Nr. 1 LFGB). Hier wird dem Verordnungsgeber die Entscheidung zugewiesen, ob er ein europarechtliches Verbot, das regelmäßig bereits Gegenstand lebensmittelstrafrechtlicher Sanktionen aufgrund nationalen Verbots sein wird, in Bezug nehmen will.
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Zum anderen (so § 58 Abs. 3 Nr. 2 LFGB) kann in der Rechtsverordnung nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 LFGB auf ein Verbot in einem unmittelbar geltenden Rechtsakt der EG oder EU verwiesen und die Verletzung sanktioniert werden, wenn das darin enthaltene Ge- oder Verbot inhaltlich einer Regelung entspricht, zu der bestimmte, in der Rückverweisungsklausel bezeichnete Vorschriften ermächtigen. Hier wird nicht auf eine aus dem EU/EG-Rechtsakt entstammende Verhaltensnorm Bezug genommen, die auch Gegenstand eines formalgesetzlichen Ge- oder Verbots sein muss. Vielmehr reicht es aus, dass die Verwaltung selbst nach einer in der Rückverweisungsklausel genannten Vorschrift ermächtigt ist, die Verhaltensnorm des nationalen Rechts zu schaffen.[121] Die Klausel verweist damit nur auf materielles Recht zurück.
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