VI. Aufsichtspflichtverletzung im Unternehmensverbund?
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Höchst kontrovers diskutiert wird die Frage, ob und inwieweit das geltende Recht es zulässt, eine unzureichende Aufsicht der lenkenden Obergesellschaft über mit ihr verbundene Untergesellschaften, also vor allem der Muttergesellschaftim Konzernüber die Tochtergesellschaft,aus der heraus die Anlass-Zuwiderhandlung begangen wurde, nach § 130 OWiG zu ahnden. Dabei ist schon diese Formulierung der Problematik verzerrt; denn nach der Konstruktion des § 130 OWiG kann es allein ankommen auf eine Aufsichtspflichtverletzung der Leitungspersonender Muttergesellschaft etc. über die in der Untergesellschaft handelnden natürlichen Personen. Es geht also nicht um eine gesellschaftsrechtliche Pflicht zur Aufsicht oder primär um die Anforderungen an Compliance-Maßnahmen, sondern um eine strikt ordnungswidrigkeitenrechtliche Fragestellung.[40] Eine gesetzliche Klarstellung eben in dem Sinne, dass Konzernobergesellschaften i.S.v. § 130 OWiG zur Aufsicht über die Konzernunternehmen verpflichtet sind, hatte in dem Gesetzgebungsverfahren zur 8. GWB-Novelle[41] der Bundesrat angeregt.[42] Die Bundesregierung hatte diese Forderung jedoch abgelehnt, weil die bestehende Regelung im OWiG sachgerecht sei und der bestehende Rechtsrahmen ausreiche, um Aufsichtspflichtverletzungen im Konzern zu erfassen und gegebenenfalls zu ahnden.[43]
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Ein erheblicher Teil der Literaturlehnt eine derartige Ausweitung der Aufsichtspflichtverletzung mit unterschiedlicher Begründung ab,[44] entweder wegen rechtlicher Selbstständigkeit der Tochtergesellschaft oder deshalb, weil der Normzweck des § 130 OWiG, eine aus der Delegation delinquenzgefährdeter Tätigkeiten auf Personen unterhalb der Leitungsebene der juristischen Person oder Personenvereinigung resultierende Sanktionslücke zu schließen, nur die Ebene des Einzelunternehmens erfasse. Die Befürworter einer Aufsichtspflicht im Rahmen der Obergesellschaft argumentieren überwiegend mit einer faktischen Betrachtungsweise,[45] doch nehmen auch Stimmen zu, welche dieses Ergebnis aus einer Betrachtung der jeweiligen Strukturen im Konzern herleiten.[46]
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Die Praxishat noch zu keiner einheitlichen Linie gefunden. Der BGH hat die Frage bisher nicht entschieden. In einem Beschluss des Kartellsenats von 1981 hatte er offen gelassen, ob eine Obergesellschaft und ihre vertretungsberechtigten Organe überhaupt Täter nach § 130 sein können, und lediglich angedeutet, dem könne entgegenstehen, dass die Untergesellschaft „mit eigener Rechtspersönlichkeit ausgestattet und als solche auch Inhaberin des Gesellschaftsunternehmens ist“.[47] Das OLG München hat 2014 im Beschwerdeverfahren gegen einen strafgerichtlichen Eröffnungsbeschluss die konkrete Aufsichtspflicht einer Muttergesellschaft verneint und dabei einerseits auf die faktischen Verhältnisse im Konzern, andererseits aber auch auf die rechtliche Selbstständigkeit der Tochter und auf das mangelnde Bedürfnis für eine Ausweitung des Anwendungsbereichs des § 130 OWiG wegen Fehlens einer Sanktionslücke abgehoben.[48] In einem später wieder zurückgenommenen Bußgeldbescheid im Verfahren gegen die Etex Holding GmbH hatte das Bundeskartellamt dagegen die Obergesellschaft als Inhaberin des Unternehmens i.S.v. § 130 OWiG behandelt.[49]
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Die Vorschrift des § 130 Abs. 3 OWiGüber den Geldbußrahmen für die Ordnungswidrigkeit der Aufsichtspflichtverletzung in Betrieben und Unternehmen nimmt Bezug aufdie Sanktionsdrohung für die „Pflichtverletzung“. Gemeint ist damit die von (mindestens) einer zu beaufsichtigenden natürlichen Person verwirklichte Zuwiderhandlung gegen inhaberbezogene Pflichten, deren Verletzung mit Strafe oder mit Geldbuße bedroht ist (s. § 130 Abs. 1 S. 1 OWiG). Im Einzelnen ist zwischen der Geldbuße wegen der Aufsichtspflichtverletzung gegen eine natürliche Person und der an die Aufsichtspflichtverletzung einer natürlichen Leitungsperson anknüpfenden Verbandsgeldbuße gemäß § 30 OWiG zu unterscheiden.[50]
Beispiel
Ein nicht der Leitungsebene angehörender Mitarbeiter einer GmbH hat an Submissionsabsprachen mitgewirkt und es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass wenigstens einer der Geschäftsführer als Beteiligter i.S.v. § 14 OWiG in eine Zuwiderhandlung gegen das Kartellverbot gemäß § 81 Abs. 1 i.V.m. Art. 101 Abs. 1 AEUV oder § 81 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 1 GWB bzw. als Teilnehmer oder Mittäter i.S.v. §§ 25–27 StGB in die Straftat der Wettbewerbsbeschränkenden Absprachen bei Ausschreibungen (§ 298 StGB) verwickelt war. Die Kartellbehörde und die Strafkammer beim LG sehen aber die von dem zuständigen Geschäftsführer der GmbH zur Verhinderung derartiger Verstöße getroffenen Aufsichtsmaßnahmen für eine Gesellschaft dieser Größe als völlig unzureichend an.
Wo liegt das Höchstmaß´der gegen den Geschäftsführer möglichen Individualgeldbuße, wo das Höchstmaß der gegen die GmbH festzusetzenden Verbandsgeldbuße?
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Für das Höchstmaß der Geldbuße gegen eine natürliche Leitungspersonwegen einer Aufsichtspflichtverletzung gilt nach § 130 Abs. 3 OWiG Folgendes:
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Ist die Pflichtverletzung mit Strafe bedroht, so beträgt die Geldbußobergrenze bei vorsätzlicher Aufsichtspflichtverletzung 1 Mio. € (§ 130 Abs. 3 S. 1 OWiG), bei einer fahrlässigen Aufsichtspflichtverletzung nach der Regel des § 17 Abs. 2 OWiG also 500 000 €. |
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Ist die Pflichtverletzung mit Geldbuße bedroht, so bestimmt sich das Höchstmaß der Geldbuße wegen der Aufsichtspflichtverletzung nach dem für die Pflichtverletzung angedrohten Höchstmaß der Geldbuße (§ 130 Abs. 3 S. 3 OWiG). Dieses lag bisher im Ordnungswidrigkeitenrecht in der Regel bei maximal 1 Mio. € (zu § 81 Abs. 4 GWB s.u. Rn. 69), kann aber im Kapitalmarktbußgeldrecht seit den Finanzmarktnovellierungsgesetzen von 2016 und 2017 (o. 2. Kap. Rn. 14) bis zu 5 Mio. € betragen (§ 50 Abs. 9 S. 1, Abs. 10 S. 1 BörsG, § 56 Abs. 6 Nr. 1 KWG, § 172 Abs. 2 Nr. 1 SAG, § 332 Abs. 5 VAG, § 120 Abs. 18, 20, 21, jeweils S. 1 WpHG, § 60 Abs. 3 WpÜG). Bei fahrlässiger Aufsichtspflichtverletzung halbiert sich dieser Höchstsatz gemäß § 17 Abs. 2 OWiG; soweit für eine fahrlässig begehbare Anknüpfungs-Ordnungswidrigkeit ebenfalls § 17 Abs. 2 OWiG gilt, wird die Obergrenze des Bußgeldrahmens sogar auf ein Viertel reduziert.[51] |
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Im Falle einer Pflichtverletzung, die gleichzeitig mit Strafe und Geldbuße bedroht ist, bleibt ein Geldbußrahmen für die Aufsichtspflichtverletzung wegen einer mit Geldbuße bedrohten Pflichtverletzung gemäß § 130 Abs. 3 S. 3 OWiG, der das für die Aufsichtspflichtverletzung wegen einer mit Strafe bedrohten Pflichtverletzung gegebene Höchstmaß von 1 Mio. € (§ 130 Abs. 3 S. 1 OWiG) übersteigt, weiter maßgebend, auch wenn die Ordnungswidrigkeit nach der Regel des § 21 OWiG durch die Straftat verdrängt wird (§ 130 Abs. 3 S. 4 OWiG i.d. Zählung der 8. GWB-Novelle).[52] |
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Knüpft eine Verbandsgeldbußegemäß § 30 OWiG an die von einer Leitungsperson einer juristischen Person oder Personenvereinigung begangene Ordnungswidrigkeit der Aufsichtspflichtverletzung gemäß § 130 OWiG an, so gilt:
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Grundsätzlichbestimmt sich gemäß § 30 Abs. 2 S. 2 OWiG i.V.m. § 130 Abs. 3 S. 3 OWiG das Höchstmaß der an die Aufsichtspflichtverletzung anknüpfenden Verbandsgeldbuße nachdem für den Unternehmensinhaber oder seine Leitungspersonen i.S.v. § 9 OWiG angedrohten Höchstmaß der Individual-Geldbuße für die Aufsichtspflichtverletzung. Das sind bei einer mit Strafe bedrohten Pflichtverletzung gemäß § 130 Abs. 3 S. 1 OWiG 1 Mio. €, bei einer mit Geldbuße bedrohten Pflichtverletzung ist es gemäß § 130 Abs. 3 S. 3 OWiG deren Höchstmaß (o. Rn. 67). |
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Nach § 130 Abs. 3 S. 2 i.V.m. § 30 Abs. 2 S. 3 OWiG verzehnfachtsich das Höchstmaßder an die Ordnungswidrigkeit der Aufsichtspflichtverletzung gemäß § 130 OWiG anknüpfenden Verbandsgeldbuße für diesen Tatbestand bei einer mit Strafe bedrohten Pflichtverletzungauf 10 Mio. € . Bei einer mit Geldbuße bedrohten Pflichtverletzunggilt dagegen diese Verzehnfachung nicht; das ergibt sich zwingend aus der Stellung des Satzes 2 im Gefüge des § 130 Abs. 3 OWiG.[53] Insoweit bestimmt sich daher das Höchstmaß der Geldbuße wegen der Aufsichtspflichtverletzung gemäß § 130 Abs. 3 S. 3 OWiG weiterhin nach dem für die Pflichtverletzung angedrohten Höchstmaß der Geldbuße. Die darin liegende Ungereimtheit im Vergleich mit S. 2 der Norm kann nur der Gesetzgeber beseitigen. |
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