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Es ist noch unklar, ob durch die Entscheidung des Großen Senats die Anforderungen an die Beauftragtenstellung (insbes: Erfordernis eines personalen Bezugselements?) im Allgemeinen weiter konkretisiert werden oder das Gericht eine Aussage nur speziell zur Vertragsarztsituation machen wollte. Jedenfalls hat der Gesetzgeber mittlerweile auf die vom Großen Senat angeordnete Tatbestandslosigkeit korruptiver Zuwendungen an niedergelassene Vertragsärzte reagiert und mit dem am 4.6.2016 in Kraft getretenen Gesetz zur Bekämpfung von Korruption im Gesundheitswesen(BGBl. I, 1254) zwei neue Tatbestände zur Bestechlichkeit und Bestechung im Gesundheitswesen (§§ 299a, 299b StGB) in das StGB eingeführt.
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Zu klären ist weiterhin, welche Auswirkungen die Entscheidung des Großen Senats auf die Dogmatik zur sog. Vertragsarztuntreuehat. Der BGH nahm erstmals im Jahr 2003 an, dass ein Vertragsarzt vermögensbetreuungspflichtig gegenüber der gesetzlichen Krankenkasse ist und sich z.B. bei der Verordnung nicht benötigter Medikamente gem. § 266 StGB strafbar machen kann.[147] Die Vermögensbetreuungspflicht des Arztes stützte er dabei vor allem auf das in den §§ 12 Abs. 1, 70 Abs. 1 S. 2 SGB V wurzelnde Wirtschaftlichkeitsgebot sowie auf die sog. Vertreterrechtsprechung des BSG[148] ( pars pro toto BGHSt 17, 24). Weil das BSG 2009 aber von der Vertreterrechtsprechung abgerückt ist[149] und der Große Senat es in der Vertragsarztentscheidung zudem ausdrücklich abgelehnt hatte, die Beauftragtenstellung des Vertragsarztes aus dem Wirtschaftlichkeitsgebot abzuleiten,[150] war verschiedentlich die Frage aufgeworfen worden, ob die Rechtsprechung zur Vertragsarztuntreue überhaupt noch Bestand haben könne.[151] Der 4. Strafsenat des BGHhat gleichwohl in seiner (Leit-)Entscheidung vom 16.8.2016die vorinstanzliche Verurteilung eines Vertragsarztes wegen Untreue bestätigt. Er bejahte eine Vermögensbetreuungspflicht des Vertragsarztes gegenüber seiner Krankenkasse, die ihm zumindest gebiete, Heilmittel nicht unter Verstoß gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot (§ 12 Abs. 1 SGB V) ohne jegliche medizinische Indikation in der Kenntnis zu verordnen, dass die verschriebenen Leistungen nicht erbracht, aber gegenüber der Krankenkasse abgerechnet werden sollen.[152] In seinem Beschluss hob das Gericht dann ganz wesentlich auf die Rechtsmacht des Vertragsarztes ab, durch seine Verordnungsentscheidungen die gesetzlichen Leistungsansprüche der Versicherten verbindlich konkretisieren zu können.[153] Obwohl zwischen Vertragsarzt und Krankenkassen keine unmittelbaren Beziehungen bestehen, gehen diese Befugnisse nach Ansicht des Obergerichts doch weit über eine rein tatsächliche Möglichkeit der Einwirkung auf das Vermögen der Krankenkassen hinaus. Auch begründe das vom Vertragsarzt hierbei zu beachtende Wirtschaftlichkeitsgebot nicht lediglich eine unter- oder nachgeordnete Pflicht zur Rücksichtnahme auf fremdes Vermögen. Dem mit dieser Vertrauensstellung ausgestatteten Vertragsarzt obliegt nach BGH vielmehr – jedenfalls in den zu entscheidenden Fällen – eine Vermögensbetreuungspflicht als Hauptpflicht . Dass daneben jeden behandelnden Arzt die Verpflichtung zur Wahrung der Interessen des Patienten treffe, verhindere nicht, ihm weitere Hauptpflichten aufzuerlegen. Schließlich stehe auch das Recht der Kassenärztlichen Vereinigung und der Krankenkassen, die Wirtschaftlichkeit der Verordnung von Heil- oder Arzneimitteln durch Vertragsärzte im Wege von Wirtschaftlichkeits- und Abrechnungsprüfungen zu überwachen, der Annahme einer Vermögensbetreuungspflicht nicht entgegen, da die Krankenkassen über etwaige Einwände nicht eigenverantwortlich entscheiden könnten. Dieser für die Beratungspraxis wichtige BGH-Beschluss hat in der Literatur zu Recht viel Kritik erfahren.[154] Er bricht – um nur zwei Aspekte zu erwähnen – mit dem Phänotypus der strafrechtlichen Untreue, die vor Schädigungen „von innen heraus“ bewahren will und überdehnt den Tatbestand, der nach Maßgabe des BVerfG verfassungskonform restriktiv auszulegen ist.[155] Etwaige Schutzlücken müssen durch Neukriminalisierung oder unter Rückgriff auf den Betrugstatbestand (Beihilfe) geschlossen werden. – Ob Vertragsärzte sich auch wegen Betrugs durch Unterlassenstrafbar machen können, wenn sie Vorteile, die sie z.B. von Vertretern eines Pharmaunternehmens erhalten haben, gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung nicht anzeigen, ist höchstrichterlich bisher nicht geklärt.[156] Das gleiche gilt für eine mögliche Betrugsstrafbarkeit des bestochenen Vertragsarztes gegenüber dem Apotheker und zu Lasten der Krankenkassen.[157]
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Angestellte Ärztezählen ohne Weiteres zum Täterkreis von § 299 Abs. 1 StGB.[158] Dagegen kann der von einem Privatpatientenbeauftragte Arzt schon mangels Beauftragung durch einen geschäftlichen Betrieb/ein Unternehmen nicht Täter des § 299 Abs. 1 StGB sein.[159] Unabhängig von der strafrechtlichen Bewertung einer Vorteilsannahme drohen dem betroffenen Arzt weitreichende außerstrafrechtliche, d.h. insb. berufsrechtliche Sanktionen.[160]
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§ 299 StGB fordert – auch in seiner Neufassung – in beiden Absätzen ein Handeln im geschäftlichen Verkehr. Bei gebotenen weitem Verständnis[161] sind darunter jegliche geschäftlichen Beziehungen zu einem Unternehmen zu verstehen.[162] Erfasst sein soll also jede selbständige – freiberufliche, aber auch künstlerische oder wissenschaftliche[163] – Betätigung im Wettbewerb, mit der ein wirtschaftlicher Zweck verfolgt wird.[164] Das Handeln wohltätiger und gemeinnütziger Unternehmen ist einbezogen, wenn in einem bestimmten Bereich ihrer Tätigkeit ein Erwerbszweck hinzutritt.[165] Das Merkmal dient insb. der Ausgrenzung rein privaten[166] sowie rein hoheitlichen Handelns[167] sowie betriebsinterner Vorgänge wie der Bestechung von Betriebsräten.[168] Dass der Bezug von Waren oder gewerblichen (jetzt Dienst-)Leistungen durch private Endverbrauchergenerell ausgeschlossen sein soll, lässt sich dem Merkmal des „geschäftlichen Verkehrs“ hingegen nicht ohne Weiteres entnehmen.[169] Der Wortlaut legt vielmehr nahe, dass nur das Fordern usw. des Vorteils sowie die Bevorzugung im geschäftlichen Verkehr stattfinden müssen; als Bezieher der Ware kommt zunächst jeder in Betracht.[170] Richtig ist aber, dass die Bevorzugung eines privaten Verbrauchers gegenüber einem anderen aus anderen Gründen nicht unter den Tatbestand fällt.[171]
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Der Täter muss nach beiden Tatvarianten des § 299 Abs. 1 StGB für sich oder einen Dritten einen Vorteil fordern, sich versprechen lassen oder annehmen.[172] Annehmen ist die tatsächliche Entgegennahme des Vorteils, Sichversprechenlassen die Annahme des Angebots eines zukünftig zu erbringenden Vorteils und Fordern die (auch konkludente) Erklärung des Täters, dass er einen Vorteil als Gegenleistung für eine unlautere Bevorzugung begehrt; allein die erste Tatvariante („fordern“) verlangt keine Übereinkunft von Geber und Nehmer des Vorteils. Ob der Empfänger der Erklärung ihre Bedeutung versteht, ist irrelevant; es kommt auch nicht darauf an, ob das Ansinnen sofort zurückgewiesen wird.[173] Mit der Tatmodalität des Forderns setzt die Strafdrohung des § 299 StGB bereits im Anbahnungsstadium an[174] und erfasst (mit Vollendungsstrafe) auch von vornherein untaugliche Anbahnungsbemühungen, womit eine weite Vorverlagerung der Strafbarkeit einhergeht;[175] eine Rücktrittsmöglichkeit besteht nicht.[176]
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Der Angestellte oder Beauftragte muss zur Verwirklichung des § 299 Abs. 1 StGB für das Unternehmen (ehemals: „geschäftlicher Betrieb“) handeln, also für dieses im Außenverhältnis auftreten.[177] Vorgänge innerhalb des Unternehmens werden deshalb nicht erfasst.[178]
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