a) Verkehrsauffassung und Begriff des Verbrauchers und Verwenders
270
Soweit es den Informationsschutz und den Schutz vor Täuschungen betrifft, ist die Verkehrsauffassungals unbestimmter Rechtsbegriff Maßstab für die Bewertung der Eignung einer Handlung zur Irreführung.[65] Die Bestimmung der Verkehrsauffassung erfolgt zunächst über gesetzliche Vorgaben, wenn und soweit bestimmte Erwartungen, die der angesprochene Verkehrskreis an ein Erzeugnis haben darf, gesetzlich fixiert sind (normative Bestimmung).[66] Von diesen Vorgaben abweichende tatsächliche Erwartungen des Verkehrskreises sind irrelevant.[67] Sind solche gesetzlichen Bestimmungen nicht vorhanden, so kann auf das Deutsche Lebensmittelbuch(§ 15 LFGB, LMR 6610 ff.) zurückgegriffen werden, das „ein bedeutsames Auslegungshilfsmittel“[68] darstellt. Im Grundsatz ist aber die Auffassung der am Verkehr mit Lebensmitteln beteiligten Kreise, mithin der Verbraucher, Hersteller, Importeure und Händler, hinsichtlich Kennzeichnung, Aufmachung und Angabe über die Beschaffenheit des Erzeugnisses zur Bestimmung der Verkehrsauffassung entscheidend.[69] Besonderes Gewicht kommt angesichts des Schutzzwecks des § 11 LFGB dabei der Erwartung des Verbraucherszu,[70] so dass letztlich maßgebend ist, wie dieser die Angaben, Aufmachung oder Kennzeichnung verstehen darf.[71] Demnach sind die Begriffe der Verkehrsauffassung und der berechtigten Verbrauchererwartung im Wesentlichen deckungsgleich.[72]
271
Soweit Futtermittelbetroffen sind, gilt das Ausgeführte entsprechend, nur dass durch § 19 LFGB der Verwender geschützt ist, wobei hier zwischen einem Inverkehrbringen (auch) für private und nur für gewerbliche Verwendung zu differenzieren ist.[73]
272
Bei der Bestimmung der Verkehrsauffassung ist auf den konkreten Adressatenkreis, auch unter Berücksichtigung der örtlichen und zeitlichen Besonderheiten des Absatzmarktes, abzustellen.[74] Maßstab im Kontext des Täuschungsschutzes ist grundsätzlich der durchschnittlich informierte, aufmerksame und verständige, nicht der flüchtige Durchschnittsverbraucher;[75] insofern hat sich das Verbraucherleitbild auch im deutschen Strafrecht europäisiert.[76] Der BGH sieht das in seiner Entscheidung zum Betrug durch sog. Abo-Fallen[77] evtl. noch anders; für das Lebensmittelstrafrecht ist demnach von einer europäisierten Betrachtungsweise auszugehen (vgl. aber zum europäischen Verbraucherbegriff auch Rn. 278).
273
Die Feststellung der Verkehrsauffassungobliegt dem Tatrichter, der keinen Sachverständigen hinzuziehen muss, soweit nicht über die allgemeine Lebenserfahrung hinausgehende Sachkunde oder spezielles Fachwissen erforderlich ist[78] oder sich die Verkehrsauffassung aus allgemein zugänglichen Quellen ergibt.[79] Für die Bestimmung der Eigenschaften eines Lebensmittels in ökotrophologischer, pharmakologischer oder medizinischer Hinsicht dürfte hingegen regelmäßig eine sachkundige Begutachtung unumgänglich sein.[80]
274
Ergeben sich im europäischen Binnenverkehrim Hinblick auf die jeweils in unterschiedlichen Mitgliedstaaten herrschenden Verkehrsauffassungen Differenzen, so gilt hinsichtlich des Täuschungsschutzes der Grundsatz, dass ein in einem Mitgliedstaat rechtmäßig in den Verkehr gebrachtes Erzeugnis nur bei Vorliegen gewichtiger Gründe in einem anderen Mitgliedstaat als nicht verkehrsfähig angesehen werden darf.[81]
b) Irreführung und Täuschung
aa) Unsichere und irreführende Lebensmittel
275
Art. 14 Abs. 1 BasisVO normiert ein Verkehrsverbot für Lebensmittel, die nicht sichersind. Dies sind nach Art. 14 BasisVO Lebensmittel, die gesundheitsschädlich (Abs. 2 lit. a) oder für den Verzehr durch Menschen nicht geeignetsind (Abs. 2 lit. b). Zwar bestimmt die BasisVO nicht ausdrücklich, welche Lebensmittel nicht zum Verzehr durch Menschen geeignet sind, benennt aber in Art. 14 Abs. 5 BasisVO die maßgebenden Faktoren: Entscheidend ist danach, ob „das Lebensmittel infolge durch Fremdstoffe oder auf andere Weise bewirkten Kontamination, durch Fäulnis, Verderb oder Zersetzung ausgehend von dem beabsichtigten Verwendungszweck nicht für den Verzehr durch den Menschen inakzeptabel geworden ist“. Das setzt voraus, dass das Lebensmittel in seiner Beschaffenheit in einer Weise verändert worden ist, die den Verzehr zwar noch nicht gesundheitlich bedenklichmacht, aber das Lebensmittel im Wert soweit mindert, dass es auch bei entsprechender Kennzeichnung nicht in den Verkehr gebracht werden kann,[82] weil der Verzehr nach der Verkehrsauffassung ausgeschlossen ist. Diese Ungeeignetheit muss vom Verbraucher nicht erkannt werden, die Wertminderungmuss sich also insofern nicht realisieren, damit der Tatbestand erfüllt ist.[83]
276
§ 11 Abs. 1 LFGB beinhaltete bis zu seiner Änderung mit Gesetz v. 5.12.2014, wie auch §§ 5, 5a UWG, ein allgemeines Irreführungsverbot, das durch die Beispiele der Nrn. 1-4 illustriert wurde, wobei den Nrn. 2-4 wohl nur Auffangcharakter zukam. Das Verbot betraf die Verwendung irreführender Darbietungsformen (Bezeichnung, Aufmachung etc.).[84] Der Begriff irreführend war nach h.M. als identisch mit einer Eignung zur Täuschung zu verstehen.[85] Diese Definition war jedoch im Hinblick darauf, dass die Regelungen in § 11 Abs. 1 Nr. 2–4 LFGB ansonsten vollständig überflüssig wären, dahingehend auszuweiten, dass bereits missverständliche Angaben, also solche, die den Verbraucher in die Irre führen können, dem Verbot des § 11 Abs. 1 LFGB sollten. Eine typische Irreführungsform ist das Verwenden von Bezeichnungen wie Öko, Bio etc., ohne dass die Voraussetzungen der VO (EG) Nr. 834/2007[86] erfüllt sind.[87] Dies muss aber auch für die Verwendung einer sog. Tierhaltungskennzeichnung gelten, wenn die von dem Verwender selbst gesetzten und in der Kennzeichnung angegebenen Bedingungen (z.B. „nach gesetzlichem Standard“) nicht erfüllt werden.[88]
277
Nach der Rechtsprechung ist das Anbieten von Gerichten mit „Feta“ oder „Fetakäse“ in einem Imbiss irreführend, wenn es sich bei der Zutat tatsächlich um mediterranen Weichkäse aus Kuhmilch handelt.[89] Ebenso stellt es eine irreführende Bezeichnung dar, wenn einem Lebensmittel unter der allgemeinen Bezeichnung „Gewürze“ Fisch-, Geflügel oder Wildfleisch zugesetzt wird oder wenn bestimmte Zutaten nicht aufgeführt werden, so dass der Eindruck erweckt wird, sie seien für bestimmte Verbrauchergruppen (Vegetarier, Veganer etc.) geeignet. Dies ist etwa der Fall, wenn bei einem Lebensmittel die Zugabe von Speck nicht in der Zutatenliste aufgeführt wird.
278
Etwas anders gilt nach der Rechtsprechung des OLG Düsseldorf jedoch, wenn die Zutaten auf der Zutatenliste ausdrücklich über die tatsächlichen Inhaltsstoffe aufklären, mag auch die Handelsbezeichnung zunächst einen anderen Eindruck erwecken.[90] Der erkennende Senat begründete dies unter Berufung auf die Rechtsprechung des EuGH [91] mit dem Argument, dass ein Verbraucher, der seine Kaufentscheidung an den Inhaltsstoffen ausrichte, auch die Zutatenliste lese. Der BGH hatte dem EuGH die Frage vorgelegt, „ob die Aufmachung eines Lebensmittels durch bildliche Darstellungen das Vorhandensein einer Zutat suggerieren darf, obwohl tatsächlich eine normalerweise in diesem Lebensmittel verwendete Zutat durch eine andere Zutat ersetzt wurde, solange der verwendete Austauschstoff im Zutatenverzeichnis genannt wird“.[92] Der BGH widersprach dem OLG Düsseldorf, weil er zu der Auffassung gelangte, dass der informierte Verbraucher bereits durch die Bezeichnung des Produkts „die eindeutige Antwort auf die Frage erhält, ob der Geschmack des Produkts durch aus Himbeerfrüchten und Vanillepflanzen gewonnene Aromen mitbestimmt wird. In einem solchen Fall habe auch der mündige Verbraucher keine Veranlassung mehr, sich anhand des Zutatenverzeichnisses zusätzlich zu informieren “ . Der EuGH bestätigte diese Ansicht letztlich auch im Vorlageverfahren.[93]
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