258
Die Erfüllung der Regelbeispiele setzt hinsichtlich der objektiven Voraussetzungen zumindest Eventualvorsatz voraus; bei den Varianten der Nrn. 1 und 2 ergibt sich die besondere Schwere des Unrechts aus der konkreten Gefahr, die der Täter mit der Tat herbeigeführt haben muss. Bei Erfüllung der Nr. 3 schöpft die Tat ihren besonderen Unrechtsgehalt aus der inneren Einstellung des Täters zur Tat, insbesondere zu den betroffenen Rechtsgütern.[51]
aa) Gesundheitsgefahr für eine große Zahl von Menschen (§ 58 Abs. 5 S. 2 Nr. 1 LFGB)
259
Nach § 58 Abs. 5 S. 2 Nr. 1 LFGBliegt in der Regel ein besonders schwerer Fall vor, wenn durch die Tat die Gesundheit einer großen Zahl von Menschen konkret gefährdet wurde. Eine konkrete Gesundheitsgefährdungliegt vor, wenn der Eintritt einer Gesundheitsschädigung so nahe liegt, dass es lediglich vom Zufall abhängig ist, ob es zu einer Schädigung kommt.[52] Zur Feststellung dieser Gefahr sind die Umstände umfassend in ihrem Zusammen- und Gegeneinanderwirken zu bewerten.[53] Erscheint nach dieser Würdigung der Eintritt des Schadens als wahrscheinlicher sein Ausbleiben, so ist eine Gefährdung im Sinne von § 58 Abs. 5 S. 2 Nr. 1 LFGB gegeben.[54]
260
Zur Erfüllung des Regelbeispiels muss die konkrete Gefährdung bei jedem Individuum dieser großen Anzahl von Menschen individuell festgestellt werden. Streitig ist, wann eine Zahl von Menscheni.d.S. als großzu gelten hat. Teils wird in Anlehnung an die Judikatur zu den Brandstiftungsdelikten eine große Anzahl von Menschen ab 20 Personen angenommen.[55] Andere lehnen die abstrakte Bestimmung einer absoluten Zahl ab und machen das Vorliegen des Regelbeispiels von den konkreten Tatumständen abhängig.[56] Die Festlegung einer absoluten Zahl erscheint vorzugswürdig, weil sich der Unrechtsgehalt einer vorsätzlichen Gesundheitsgefährdung im Rahmen industrieller Massenfertigung nicht vom Unrecht bei einer Gefährdung der gleichen Anzahl von Menschen bei Fertigung der Erzeugnisse durch herkömmliches Handwerk unterscheiden dürfte.
bb) Gefahr der schweren Schädigung des Körpers oder der Gesundheit (§ 58 Abs. 5 S. 2 Nr. 2 LFGB)
261
Das Regelbeispiel des § 58 Abs. 5 S. 2 Nr. 2 LFGBist erfüllt, wenn der Täter durch die Tat einen Menschen in die konkrete Gefahr einer schweren Schädigung an Körper oder Gesundheit gebracht hat. Dieses Merkmal setzt nicht voraus, dass eine schwere Körper verletzung i.S.d. § 226 StGB droht; vielmehr ist die Formulierung, die bereits in § 51 Abs. 3 Nr. 2 LMBG enthalten war, im Sinne des Tatbestandsmerkmals der §§ 218 Abs. 2 S. 2 Nr. 2; 221 Abs. 2 Nr. 2 StGB etc. als schwere Gesundheitsschädigungzu verstehen, so dass nicht nur die in § 226 Abs. 1 StGB genannten Folgen erfasst sind, sondern auch andere schwerwiegende Schäden, wie z.B. das Verfallen in eine ernste, langwierige Krankheit oder der Verlust bzw. die erhebliche Beeinträchtigung der Arbeitskraft.[57]
cc) Grober Eigennutz und Erlangen von Vermögensvorteilen großen Ausmaßes (§ 58 Abs. 5 S. 2 Nr. 3 LFGB)
262
Ein besonders schwerer Fall einer Tat des § 58 Abs. 1–3 LFGB ist ferner nach § 58 Abs. 5 S. 2 Nr. 3 LFGBregelmäßig gegeben, wenn der Täter aus grobem Eigennutz handelt und er oder ein Dritter durch die Tat Vermögensvorteile großen Ausmaßes erlangt.
263
Unter grobem Eigennutzist in Anlehnung an die Judikatur zu § 370 Abs. 3 Nr. 1 AO a.F. zu verstehen, dass der Täter sich von einem Streben nach dem wirtschaftlichen Vorteil in einem besonders anstößigen Maß leiten lässt, das übliches kaufmännisches Gewinnstreben deutlich übersteigt,[58] er also mit ausgeprägter Gewinnsucht handelt.[59]
264
Einen Vermögensvorteil großen Ausmaßeshat der Täter regelmäßig erlangt, wenn der durch die Tat (eine Tat im materiellen Sinn) erlangte Gewinn einen Betrag von 50.000 € übersteigt;[60] insofern kann die Judikatur zum Merkmal des entsprechenden Regelbeispiels beim Betrug (§ 263 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 StGB) und auch zur Steuerhinterziehung nach § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO[61] herangezogen werden,[62] wenn es dort auch um einen Vermögensverlust beim Verletzten geht. Im Hinblick auf die Bestimmung des entsprechenden Betrages soll jedoch nach der Rechtsprechung nur eine Tat im materiell-rechtlichen Sinne Berücksichtigung finden.[63]
8. Fahrlässigkeitsstrafbarkeit
265
Die fahrlässige Begehung (dazu Rn. 104 ff.) der in § 58 Abs. 1 bis 3 LFGB dargestellten Verstöße stellt ebenfalls eine Straftat dar, die nach § 58 Abs. 6 LFGB mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bestraft werden kann.
II. § 59 LFGB als Strafvorschrift zum vorbeugenden Schutz der Gesundheit, zum Schutz der Verbraucherinformation und zum Schutz vor Täuschung
1. Schutzgüter des § 59 LFGB
266
Während § 58 Abs. 1–3 LFGB über ein einheitliches Schutzgut verfügt, schützen die Strafvorschriften des § 59 Abs. 1–3 LFGB unterschiedliche Interessen: Die Mehrzahl der Vorschriften dient einem verbeugenden Schutz des Verbrauchers vor Gesundheitsschäden, indem bereits die Herbeiführung einer möglicherweise gefährlichen Situation unter Strafe gestellt wird. Weitere Straftatbestände in § 59 Abs. 1 LFGB dienen dem Schutz des Verbrauchers davor, durch unrichtige oder unvollständige Informationen zum Kauf eines minderwertigen oder unbrauchbaren Erzeugnisses veranlasst zu werden, also dem Schutz der Verbraucherinformationund dem Schutz vor Täuschungen. Der durch das 3. ÄndG eingeführte § 59 Abs. 1 Nr. 10a LFGB soll schließlich über die Strafbewehrung der Vermögenshaftpflichtversicherungspflicht die Abnehmer von Futtermitteln, die an der Lebensmittelgewinnung dienende Tiere verfüttert werden sollen, davor schützen, im Falle verunreinigter Futtermittel nicht effektiv Regress beim Hersteller nehmen zu können. Insofern dient die Strafvorschrift dem Schutz des Vermögensder Unternehmer, die Futtermittel vom Hersteller abnehmen. Dass ein so extrem weit vorverlagerter kriminalstrafrechtlicher Vermögensschutz noch verhältnismäßig ist, kann mit guten Gründen bezweifelt werden.
267
Die Strafvorschriften der § 59 Abs. 1 Nrn. 1–20, 21b LFGB können einem zumindest primären Schutzgutzugeordnet werden; gleiches gilt für die einzelnen Varianten des § 59 Abs. 2 und für § 59 Abs. 3 Nr. 2b LFGB. Keinem vorrangigen Schutzzweck eindeutig zuzuordnen sind die Strafvorschriften der § 59 Abs. 1 Nr. 21 lit. a, Abs. 3 Nr. 1 und 2a LFGB, die auf unterschiedliche, teils dem vorverlagerten Gesundheitsschutz, teils dem Täuschungsschutz dienende Rechtsverordnungen verweisen.
2. Grundbegriffe des Täuschungs- und Informationsschutzes
268
Im Rahmen des Täuschungs- und Informationsschutzes kommt neben den europarechtlichen Vorgaben (insb. Art. 8, 16 BasisVO) den Verboten der §§ 11, 12, 19 LFGB entscheidende Bedeutung zu. § 11 LFGB dient der Umsetzung der Richtlinie 2000/13/EG. Zwar basiert § 19 LFGB, der § 11 LFGB nachgebildet ist, nicht auf dieser Richtlinie, aber die Textgleichheit führt dazu, dass – soweit keine futtermittelspezifischen Abweichungen gerechtfertigt sind – eine identische Auslegung vorzunehmen ist.[64] Zentrale Begriffe in diesem Kontext sind die Verkehrsauffassungbzw. Verbrauchererwartungund die Irreführung.
269
Die Vorgaben der Health-Claims-VOüber nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben zu Lebensmitteln, auf die § 59 Abs. 2 Nr. 3 LFGB Bezug nimmt, sollen vor Desinformationdes Verbrauchers schützen.
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