a) Vertrag und/oder gelebte Vertragspraxis?
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Dies ist dem Umstand geschuldet, dass die geschlossenen Werk- oder Dienstverträge der verabredeten Tätigkeit zwar ein gewisses Gepräge geben können, es für die Statusbeurteilung der Behörden und Gerichte letztendlich aber auf die praktische Umsetzung der Tätigkeiten in der betrieblichen Praxis ankommt. Denn nach ständiger Rechtsprechung und auch der maßgeblichen Verwaltungspraxis ist stets der für die Statusfeststellung relevante „objektive Geschäftsinhalt“ zu ermitteln, der zwar sowohl den ausdrücklich getroffenen Vereinbarungen, darüber hinaus aber auch der praktischen Durchführung des Vertrags zu entnehmen ist. Für den Fall eines Widerspruchs zwischen Vertragsinhalt und gelebter Vertragspraxisist letztere sogar allein maßgebend. Darüber hinaus hat die Rechtsprechung auch mehrfach betont, dass es für die Bestimmung der letztlich maßgeblichen Vertragspraxis auch nicht auf einmalige Standards ankommt, sondern diese über einen längeren Zeitraum gelebt werden müssen.[1] Auch dieser Grundsatz, wonach es maßgeblich auf die die praktische Umsetzung der Tätigkeiten in der betrieblichen Praxis ankommt, soll durch § 611a BGB-E gesetzlich niedergelegt werden (vgl. § 611 Abs. 1 S. 2 BGB-E).
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Dies hat zur Folge, dass eine wirksame Scheinselbstständigen-Compliance in der Praxis zum einen ein effizientes Vertragsmanagementerfordert, das sich an den Kriterien zur Vermeidung einer Scheinselbstständigkeit orientiert. In diesem Zusammenhang ist etwa entscheidend, den Vertragsgegenstand, d.h. das geschuldete Werk oder die Dienstleistung, derart konkret in dem Vertrag zu bestimmen, dass in der Folge kein Raum für weitere Konkretisierungen durch Weisungen des Auftraggebers verbleibt. Sollte dies aufgrund der Umstände des Einzelfalls nicht ausreichend sein, um beispielsweise mögliche Interaktionen zwischen den Mitarbeitern des Auftraggebers und Auftragnehmers in Form von arbeitsbezogenen Weisungen zu unterbinden, sind weitere vertragliche Regelungen wie etwa eine Festlegung von Ticketsystemen oder sonstiger Repräsentantenmodelle erforderlich.[2]
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Gleichwohl beschränken sich die erforderlichen Maßnahmen aber nicht auf ein derartiges Vertragsmanagement, sondern umfassen auch zahlreiche Implementierungs-und Überwachungsmaßnahmen, die erst gewährleisten können, dass die Verträge auch in der betrieblichen Praxis entsprechend gelebt werden und konkretisierende Weisungen des Auftraggebers unterbleiben. Wie bereits gezeigt, lassen sich gerade in jüngerer Zeit Fälle nachvollziehen, in denen alle Voraussetzungen für Werkverträge einschließlich in der Vereinbarung erforderlicher Ticketsystemeerfüllt waren, eine Scheinselbstständigkeit aber dennoch nicht verhindert werden konnte, weil keine entsprechenden Implementierungs- uns Überwachungsmaßnahmen installiert waren, um sicherzustellen, dass das vertraglich vereinbarte Ticketsystem in der Praxis auch durchgängig gelebt wurde.[3]
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Darüber hinaus können auch weitere Maßnahmen zu Risikominimierung einzubeziehen sein. In diesem Zusammenhang wird in jüngerer Vergangenheit etwa unter dem Begriff der sog. „ Fallschirmlösung“ ein Lösungsansatz diskutiert, wonach für den Fall, sollten sich die auf Grundlage eines an sich vereinbarten Dienst- oder Werkvertrags erbrachten Leistungen als eine verdeckte Arbeitnehmerüberlassung herausstellen, das (vorsorgliche) Einholen einer Arbeitnehmerüberlassungserlaubnis durch den Auftragnehmer verhindern soll, dass die eingesetzten Arbeitnehmer aufgrund der gesetzlichen Fiktion des § 10 Abs. 1 AÜG ein Arbeitsverhältnis zu dem Auftraggeber geltend machen können.
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Dennoch empfiehlt es sich, bei derartigen Strategien die Entwicklung der Rechtsprechung und Gesetzgebung genau zu beobachten. Wie das genannte Beispiel der „Fallschirmlösung“ zeigt, besteht angesichts der widersprechenden Entscheidungen verschiedener Kammern des LAG Baden-Württemberg zurzeit eine erhebliche Rechtsunsicherheit, ob sich die unerwünschten Rechtsfolgen einer Scheinselbstständigkeit auch tatsächlich durch eine vorsorgliche Arbeitnehmerüberlassung vermeiden lassen.[4] Darüber hinaus ist von Seiten des Gesetzgebers aber auch die Einführung einer Offenlegungspflicht geplant, wonach eine legale Arbeitnehmerüberlassung nur dann vorliegen soll, wenn sich die beteiligten Parteien darüber einig sind und den dazu abgeschlossenen Vertrag auch tatsächlich so bezeichnen, mit der Folge, dass der sog. „Fallschirmlösung“ ein Riegel vorgeschoben wird.[5]
[1]
Ständige Rechtsprechung BAG NZA 2012, 1433; vgl. auch Referentenentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, Stand 14.4.2016, S. 29 f. m.w.N.; vgl. hierzu auch von Medem DStR 2013, 1436.
[2]
Vgl. zuletzt BAG NZA-RR 2012, 455 m.w.N.
[3]
Vgl. die zuletzt bekannt gewordenen Fälle u.a. von IT-Mitarbeitern bei Daimler bei LAG Baden-Württemberg NZA 2013, 1017.
[4]
Vgl. bejahend LAG Baden-Württemberg (4. Kammer) 3.12.2014 – 4 Sa 41/14; verneinend LAG Baden-Württemberg (3. und 6. Kammer) vom 8.4.2015 – 3 Sa 53/14 und vom 7.5.2014 – 6 Sa 78/14; die Revision ist zurzeit anhängig unter BAG – 9 AZR 51/15; vgl. hierzu auch Ulrici NZA 2011, 456.
[5]
Vgl. Referentenentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, Stand 11.11.2015, S. 18 f.
1. Teil Problemaufriss: Contractor Compliance› II. Herausforderungen einer Contractor Compliance› 5. Vielzahl von weiteren compliance-relevanten Bereichen
5. Vielzahl von weiteren compliance-relevanten Bereichen
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Ein letztes Problem im Zusammenhang mit dem Aufbau und der Implementierung einer wirksamen Contractor Compliance besteht darin, dass sich diese nicht allein auf die bislang behandelten Statusfragen beschränkt. Abhängig von dem jeweils konkreten Einzelfall und der geplanten Tätigkeit können im Zusammenhang mit dem Einsatz von Fremdpersonal eine ganze Reihe weiterer rechtlicher Aspekte in den Vordergrund treten und die verbleibenden Statusfragen unter Compliance-Gesichtspunkten sogar zur Randnotiz werden lassen.
a) Regulierung der Haftungsrisiken
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Ein erstes Beispiel, das in der Praxis häufig etwas in den Hintergrund gerät, bildet die vertragliche und ggf. auch versicherungsmäßige Regulierung drohender Haftungsrisikenim Zusammenhang mit Fremdpersonaleinsätzen. Wie gerade das Interim-Management, darüber hinaus aber auch eine ganze Reihe weiterer haftungssensibler Fälle aus der Praxis zeigen, können beim Einsatz von Fremdpersonal erhebliche Schäden für das Unternehmen, darüber hinaus aber auch für Dritte wie etwa Kunden oder Lieferanten entstehen. Ein Haftungsrückgriff kommt in derartigen Fällen gegen das eingesetzte Fremdpersonal selbst (z.B. deliktisch, § 823 BGB oder organschaftlich, §§ 43 Abs. 2 GmbHG, 93 Abs. 2 AktG), aber auch gegen das Auftragnehmerunternehmen (z.B. vertraglich, § 280 BGB i.V.m. § 278 BGB oder deliktisch, § 823 Abs. 1 BGB i.V.m. Verkehrssicherungspflichten) in Betracht. Für die Praxis einer effektiven (Schein-)Selbstständigen-Compliance bedeutet dies, dass in derartigen Fällen – neben der Regelung von Statusfragen – nicht nur eine Vielzahl von Möglichkeiten einer vertraglichen Regulierung der Haftungsrisiken (z.B. Haftungsklauseln oder auch Haftungsausschlüsse, -begrenzungen oder -beschränkungen), sondern auch mögliche Versicherungslösungen (z.B. D&O-Versicherung, Betriebshaftpflichtversicherung) einbezogen werden müssen.[1]
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