Sophie Scholl ist eine Ikone der deutschen Geschichte. Gemeinsam mit ihrem Bruder Hans und anderen Mitstreitern der Weißen Rose rief sie in Flugblättern zum Widerstand gegen das Hitler-Regime auf; ihren mutigen Einsatz bezahlte sie mit dem Leben. Wer war diese junge Frau, die nicht zögerte, für Frieden und Freiheit alles zu riskieren? Wie wurde aus der einst begeisterten Anhängerin des BDM eine überzeugte Widerstandskämpferin? Simone Frieling nähert sich Sophie Scholl in ihrem einfühlsamen Porträt anhand von Briefen, Aufzeichnungen und anderen historischen Dokumenten, beleuchtet ihre Kindheit, Jugend und Studentenzeit sowie die Beziehungen, Werte und Vorbilder, die sie prägten. So entsteht ein vielschichtiges und zutiefst menschliches Bild von Sophie Scholl jenseits der Legende.
Simone Frieling, 1957 in Wuppertal geboren, lebt als Malerin und Autorin in Mainz. Sie veröffentlichte Erzählungen, Romane, Essays, literarische Sachbücher und Anthologien. 1998 erhielt sie den Martha-Saalfeld-Literaturpreis. Ihre Ölbilder, Aquarelle, Pastelle und Grafiken wurden in zahlreichen Ausstellungen gezeigt.
Simone Frieling
AUFSTAND DES GEWISSENS
Mit Grafiken
von Simone Frieling
1UNERSCHÜTTERBARE WAHRHEITSLIEBE UND GROSSE PROPAGANDA
Sophie Scholl und Joseph Goebbels
2SIE WAREN BEREIT, MIT ALLEM ZU BEZAHLEN, WAS SIE HATTEN
Der Prozess
3ICH KANN GANZ RUHIG AN DICH DENKEN
Liebe und Krieg
4DIESE LIEBE, DIE SO UMSONST IST, IST FÜR MICH ETWAS WUNDERBARES
Die Familie
5SIE WAR WIE EIN FEURIGER, WILDER JUNGE
Körper und Identität
6DER GOTTGESCHENKTE FÜHRER
Das verherrlichte Regime
7AM BODEN ZERSTÖRT
Schmerzhafte Erinnerungen und neue Wege
8NACHWORT
ZEITTAFEL
LITERATUR
Das Bewusstsein eines inneren Gerichtshofes im Menschen (»vor welchem sich seine Gedanken einander verklagen oder entschuldigen«) ist das Gewissen .
Jeder Mensch hat Gewissen, und findet sich durch einen inneren Richter beobachtet, bedroht und überhaupt im Respekt (mit Furcht verbundener Achtung) gehalten, und diese über die Gesetze in ihm wachende Gewalt ist nicht etwas, was er sich selbst (willkürlich) macht, sondern es ist seinem Wesen einverleibt. Es folgt ihm wie sein Schatten, wenn er zu entfliehen gedenkt. Er kann sich zwar durch Lüste und Zerstreuungen betäuben, oder in Schlaf bringen, aber nicht vermeiden, dann und wann zu sich selbst zu kommen, oder zu erwachen, wo er alsbald die furchtbare Stimme desselben vernimmt. Er kann es, in seiner äußersten Verworfenheit, allenfalls dahin bringen, sich daran gar nicht mehr zu kehren, aber sie zu hören kann er doch nicht vermeiden .
Immanuel Kant
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UNERSCHÜTTERBARE WAHRHEITSLIEBE UND GROSSE PROPAGANDA
Sophie Scholl und Joseph Goebbels
Während die Studentin Sophie Scholl am frühen Nachmittag des 18. Februar 1943 im Wittelsbacher Palais, dem Gefängnis der Gestapo-Leitstelle München, verhört wird, verlässt Joseph Goebbels in einem kugelsicheren Mercedes das Ministerium und wird zum Berliner Sportpalast chauffiert. Der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda trifft kurz vor 17 Uhr im Stadtteil Schöneberg ein. In der Veranstaltungshalle ist alles vorbereitet für seinen größten Auftritt. Die Rednertribüne, die er schneidig betritt, ist mit zwei überdimensionalen Hakenkreuzfahnen geschmückt, an der Balustrade über ihr hängt, für jeden sichtbar, ein Spruchband mit vier Wörtern: »TOTALER KRIEG – KÜRZESTER KRIEG«. Vor vierzehntausend ihm begeistert zujubelnden Zuhörern hält der Berliner Gauleiter eine Rede, in der er das deutsche Volk auf den ›Totalen Krieg‹ einschwört. Als er nach fast zwei Stunden zum Schluss kommt, stellt er den sorgfältig ausgewählten Besuchern zehn rhetorische Fragen, von denen die vierte lautet: »Wollt ihr den totalen Krieg?« Ein tosendes »Ja!« ist die Antwort, und der Redner setzt nach: »Wollt ihr ihn, wenn nötig, totaler und radikaler, als wir ihn uns heute überhaupt vorstellen können?« Applaudierend erheben sich die Menschen von ihren Sitzen, der ganze Saal tobt in einer Art Massenhysterie.
Während der Minister die Menge im Saal aufwiegelt und sie für weitere Kriegshandlungen begeistert, hat Sophie Scholl ihr erstes Verhör durch den Kriminalobersekretär Robert Mohr hinter sich gebracht. Ruhig und gefasst hat die Einundzwanzigjährige Angaben zur Person und zur Familie, zum Lebensunterhalt und zum Studium sowie zu ihrem Freundes- und Bekanntenkreis gemacht. Sie hat ihre Festnahme durch den Hausschlosser Jakob Schmied geschildert, der ihren Bruder und sie mit dem Ruf »Ich verhafte Sie« in die Amtsräume des Syndikus brachte, wo sie unter Bewachung auf die Gestapo warteten.
Mit dem Auslegen von Flugblättern der Weißen Rose in der Ludwig-Maximilians-Universität, die zum Widerstand gegen die Diktatur Hitlers aufrufen, habe sie allerdings »nicht das Geringste« zu tun. Sie habe bei dem Gang durch das Gebäude Flugblätter »auf dem Boden ausgestreut« liegen sehen und »eines der Blätter aufgehoben, flüchtig gelesen« und in die Manteltasche gesteckt. Als sie im zweiten Stock einen Stapel der Flugblätter »auf dem Geländer aufgeschichtet liegen sah«, habe sie ihm im Vorbeigehen »mit der Hand einen Stoß gegeben, sodass diese in den Lichthof hinunter flatterten.« Das sei eine »Dummheit« gewesen, die sie »bereue, aber nicht mehr ändern« könne.
Für Sophie Scholl ist die Situation im Wittelsbacher Palais neu. Als Sechzehnjährige ist sie zwar in Ulm mit ihren Geschwistern schon einmal wegen ›bündischer Umtriebe‹ von der Gestapo verhaftet, aber umgehend wieder freigelassen worden. Man hatte sie, wegen ihres kurzen Haarschnitts, irrtümlich für einen Jungen gehalten. Einem Verhör hat Sophie sich jedoch noch nicht stellen müssen. Mit ihrem Bruder Hans hat sie sich nur ganz kurz absprechen können, solange sie auf die zwei Beamten warteten, die sie dann getrennt voneinander verhören. Die Beteiligung an der Herstellung und Verteilung der Flugblätter zu leugnen, wird zu ihren Absprachen gehört haben, ebenso, die Mitstreiter der Weißen Rose zu schützen und zu entlasten.
Und doch wird sich Sophie bei diesem Leugnen unwohl gefühlt haben, sonst hätte sie sich nicht schon bei der ersten Vernehmung dazu hinreißen lassen, von ihrer »Abneigung gegen die Bewegung« zu sprechen, weil durch sie »die geistige Freiheit des Menschen in einer Weise eingeschränkt wird, die meinem inneren Wesen widerspricht«. Sich der Gefährlichkeit ihrer Äußerung nur halb bewusst, fügt sie hinzu: »Zusammenfassend möchte ich die Erklärung abgeben, dass ich für meine Person mit dem Nationalsozialismus nichts zu tun haben will.«
Nicht der Mut kommt Sophie Scholl während der Befragung durch Robert Mohr abhanden, sondern die Fähigkeit zur Lüge und zur Verstellung. Seit vielen Jahren, so bezeugen es Briefe und Tagebuchnotizen, hat sie sich zur Wahrhaftigkeit erzogen, die mit einer ständigen Selbstbefragung einherging. Ebenso hat sie den inneren Dialog mit Gott gesucht und, obwohl manchmal an ihrem Glauben zweifelnd, doch an ihm festgehalten. Die Aufzeichnung vom 12. Februar 1942 macht die Art ihrer Selbsterziehung deutlich und zeigt, dass solch ein Mensch kaum zur Lüge fähig ist, auch wenn sie lebensrettend sein sollte:
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