d) Der Myom-Fall und seine Folgen
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Wie sehr auch ein Strafverfahren wegen fahrlässiger Körperverletzung infolge mangelnder Risikoaufklärung persönliche Belastungen und weitreichende Veränderungen im privaten Lebensbereich bis hin zur Existenzgefährdung mit sich bringen kann, zeigt schon der Verlauf des berühmten „Myom-Falles“.[29]
Beispiel:
„Der angeklagte Chefarzt hatte bei der Untersuchung einer 46 Jahre alten Patientin eine doppelfaustgroße Gebärmuttergeschwulst (Myom) festgestellt und zu deren operativer Entfernung geraten. Erst während der Operation ergab sich, dass die Geschwulst nicht auf der Oberfläche der Gebärmutter saß, sondern mit ihr fest verwachsen war und deshalb nur durch gleichzeitige Ausräumung der Gebärmutter beseitigt werden konnte. Mit einem so weitgehenden Eingriff war die Patientin jedoch im Nachhinein nicht einverstanden, so dass sie Strafanzeige mit der Begründung erstattete, der Angeklagte habe „aufgrund der Untersuchung und der Besprechung mit ihr“ die „Zustimmung zur Entfernung der Gebärmutter“ nicht annehmen können und dürfen“.[30]
Den Freispruch des LG hob der BGH auf die Revision der Nebenklägerin hin mit der Begründung auf, der Arzt habe nach den tatrichterlichen Feststellungen die Patientin vor der Operation nicht ausdrücklich über die möglicherweise erforderlich werdende Totalausräumung des Uterus aufgeklärt (er unterließ dies, um sie „nicht über das Notwendigste hinaus zu beunruhigen)“.[31] Deshalb hätte die Strafkammer erörtern müssen, ob der Angeklagte vor der Operation nicht an die naheliegende Möglichkeit einer eventuell notwendigen völligen Entfernung der Gebärmutter hätte denken und dann seine Patientin auf diese Möglichkeit hinweisen müssen.[32]
Dieser Pflicht sei er in der Regel auch dann nicht enthoben, wenn er durch die Aufklärung seine Patientin beunruhigen müsse. Eine falsch verstandene Rücksichtkönne sich nur allzu leicht nachträglich als eine unerwünschte Verheimlichung ihres wahren Zustands herausstellen, wie die schweren Vorwürfe der Beschwerdeführerin zeigten.[33] Wie weit die Pflicht des Arztes zur Aufklärung eines Kranken reicht, ließ der BGH im vorliegenden Fall offen, vielmehr „wies er insoweit auf die nach seiner Auffassung zutreffenden Grundsätze“ des VI. Zivilsenats des BGH hin.[34]
In der neuen Hauptverhandlung wurde der Chefarzt wegen fahrlässiger Körperverletzung verurteilt, doch hat der BGH dieses Urteil wiederum aufgehoben, weil der Tatrichter nicht geprüft habe, ob der Angeklagte „auch hätte erkennen können und müssen“, dass die Patientin im Falle ihrer vollständigen Aufklärung „einen Eingriff dieses Umfangs“ (Totalausräumung des Uterus) „endgültig verweigert“ hätte.
Leider fand die neue Hauptverhandlung jedoch nicht mehr statt, da der angeklagte Arzt zuvor verstorben war – nach den Worten Tröndles „ein Opfer, das dem Selbstbestimmungsrecht einer geheilten Patientin dargebracht worden ist“.[35] Obwohl der Eingriff absolut indiziert und lege artis durchgeführt worden war, musste der Chefarzt, nur weil er eine bestimmte Komplikation nicht vorausgesehen und darüber die Patientin nicht aufgeklärt hatte, zwei landgerichtliche Hauptverhandlungen und zwei Revisionsverfahren vor dem BGH durchstehen. Lediglich sein Tod verhinderte, dass es – nach vierjähriger Prozessdauer – noch zu einer fünften Hauptverhandlung wegen dieses Vorwurfs kam. Die psychischen und physischen Belastungen eines Strafverfahrens könnte man kaum eindrucksvoller belegen.
e) Übernahme und Einschränkung der Zivilrechtsjudikatur im Strafrecht
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Wenngleich der Ursprungsort des Problems im Strafrechtliegt,[36] wurden die maßgeblichen Richtpunkte zur ärztlichen Aufklärungspflicht in zivilen Haftungsprozessenum Schadensersatz- und Schmerzensgeld entwickelt und sind dort heute in § 630e BGB (mit § 630d Abs. 2 BGB) ohne Abschwächung kodifiziert. Diese Tatsache führt dazu, dass Staatsanwälte und Strafrichter bei der Prüfung der Risikoaufklärung bisweilen lediglich auf die im Zivilrecht geltenden „Grundsätze“ verweisen,[37] obschon mindestens eine individuelle Fahrlässigkeit im Strafrecht zu prüfen bleibt (siehe Rn. 342 ff. und Rn. 589 ff.). Doch obgleich es sowohl bei der zivil- als auch bei der strafrechtlichen Beurteilung der Rechtswidrigkeit des medizinischen Eingriffs um die erforderliche Einwilligung des Patienten geht und diese einheitlich zu beurteilen ist,[38] wird die Vorfrage ordnungsgemäßer Aufklärung im Zivil- und Strafprozess unter völlig verschiedenem Blickwinkel gestellt. Im Strafverfahrengeht es darum, ob der Aufklärungsmangel „ein solches Gewicht hat, dass er die schwerwiegende Folge einer Kriminalstrafe rechtfertigt,“[39] also zu einer persönlich außerordentlich belastenden Sanktion führen soll. Im Zivilprozessringen die Parteien dagegen um Schadensersatz und Schmerzensgeld, also ausschließlich um materielle Interessen, wobei auf der einen Seite oftmals ein schwergeschädigter, überaus bemitleidenswerter Patient und sein beklagenswertes Schicksal stehen, während auf der anderen Seite ein wirtschaftlich potenter Krankenhausträger und eine „reiche Versicherungsgesellschaft“ agieren. Angesichts dieser Konstellation kann es nicht wundern, wenn bei der Bestimmung von Maß und Umfang ärztlicher Aufklärung oft mehr oder weniger deutlich bzw. unausgesprochen Billigkeitserwägungen, Mitleidseffekte und der Aspekt des Helfenwollens eine Rolle spielen. Unter Hinweis darauf mag ein Schadensausgleich oft vertretbar, vielleicht sogar gerecht sein.
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In der zivilgerichtlichen Praxis besteht deshalb die „unverkennbare Neigung zu einer richterlichen Fortune-Korrektur“, nämlich im Kunstfehlerprozess die „Ansprüche aus Behandlungszwischenfällen möglichst auf das Aufklärungsgeleise zu schieben,“[40] worin der „kompensatorische Effekt der Aufklärungsrüge zugunsten des Geschädigten“[41] deutlich zutage tritt. Tröndle hat deshalb weithin Recht, wenn er feststellt:
„In vielen zivilrechtlichen Haftungsprozessen wurde über eine Überdehnung der ärztlichen Aufklärungspflicht das Ergebnis gesucht und gefunden, das auf direktem Wege, nämlich durch Berufung auf einen schweren Kunstfehler, nicht oder nur schwer begründbar schien. So erklärt sich, dass in der Frage der ärztlichen Aufklärungspflicht […] Zivilrichter strenger urteilen als ihre strafrichterlichen Kollegen, die mit Recht vor der Überspannung der ärztlichen Aufklärungspflicht warnen“.[42]
Auch im Zivilrecht hat der BGH allerdings erkannt, dass die Aufklärungsrüge missbräuchlich„als Instrument für eine Behandlungsfehler-Haftung ohne Behandlungsfehler-Nachweis“[43] eingesetzt wird, und ist dem durch die hypothetische Einwilligung und mit ihr verbundene Beweiserleichterungen zugunsten der Arztseite entgegengetreten (siehe nun § 630h Abs. 2 S. 2 BGB).[44]
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Im Strafrecht besteht hier in Zukunft Anlass und Raum, die von der Rechtsprechung schon bisher nicht näher hergeleitete Akzessorietät zu den zivilrechtlichen Aufklärungsmaßstäben zu lockernund sie damit nicht länger (vermeintlich) eins zu eins auf das Strafrecht zu übertragen.[45] Wenngleich die für die Krankenbehandlung erforderliche Einwilligung im Zivil- und Strafrecht von denselben Kriterien und Voraussetzungen abhängig ist, müssen die unterschiedlichen Funktionen von Zivil- und Strafverfahren bei der Frage der Aufklärungspflichtverletzung Beachtung finden und zu praktisch spürbaren Konsequenzen führen. Auch der 4. Strafsenat des BGH hat angesichts der Übernahme der zivilistischen Rechtsprechungsgrundsätze durch eine Strafkammer bereits die Frage aufgeworfen, ob diese nicht „die Anforderungen an die vom Arzt geschuldete Aufklärung überspannt hat“ und damit in der Sache eine Distanzierung von zivilrechtlichen Anforderungen erwogen (siehe zur Entscheidung ferner Rn. 341 ff.).[46] Es ist tatsächlich in diesem Sinne geboten, sich auf das strafrechtliche Rechtsgut der §§ 223 ff. StGB zu besinnen, das nicht in einem Schutz der Selbstbestimmung als einem Selbstzweck bestehen kann; vielmehr muss die betreffende Aufklärungspflicht gerade auf das Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit bezogen sein. Vorzugswürdig ist es deshalb, einen strafrechtlich beachtlichen Irrtum des Patienten nur aus erfolgreichen aktiven Täuschungenoder aus der Verletzung von Aufklärungspflichtenherzuleiten, die den konkret ausgeführten Eingriff in die körperliche Unversehrtheitund die mit ihm verbundenen Risiken für den Patienten begreiflich machen.[47] Versäumt der Arzt hingegen Aufklärungspflichten, welche lediglich die Patientenautonomie optimieren sollen und damit etwa Behandlungsalternativen betreffen, macht dies die Einwilligung nicht unwirksam – diese Aufklärungsfehler sind allein, aber auch immerhin, durch das Zivilrecht durchzusetzen.
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