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Zu einer solchen Betrachtung besteht überdies deshalb Anlass, weil der Arzt im Strafrecht für jede leichte Fahrlässigkeitmit der drohenden Folge einer Vorstrafeeinzustehen hat. Die mitunter vertretene Ansicht, nur grobeVerstöße gegen die Aufklärungspflicht rechtfertigten Strafe,[48] ist zwar rechtspolitisch erwägenswert, de lege lata aber leider unrichtig.[49] Versäumnisse bei der Eingriffsaufklärung führen vielmehr bislang zur Unzulässigkeit der Behandlung und damit „zur Haftung für ihre nachteiligen Folgen, auch wenn sie im Übrigen völlig fehlerfrei war“.[50] Gerade auch deshalb ist es notwendig, die strafrechtlich gebotene Prüfung der individuellen Fahrlässigkeit ernst zu nehmen und darüber hinaus die Einwilligung strafrechtsspezifisch zu konkretisieren. Überdies ist zu reflektieren, dass die bisherige Akzessorietät die strafrechtliche Verantwortlichkeit entgegen der Zielrichtung des Art. 103 Abs. 2 GGvon einer insgesamt schwer vorhersehbaren zivilrechtlichen Billigkeitsjudikatur abhängig macht. Denn wenn heute „kein Jurist und kein Arzt ex ante eine verbindliche Vorhersage treffen kann, welche schicksalshaften Risiken die Gerichte ex post als aufklärungsbedürftig qualifizieren werden, falls es zu einem folgenschweren Zwischenfall kommt,“[51] dann ist der Tatbestand der fahrlässigen Körperverletzung bzw. Tötung, soweit er mit Aufklärungsmängeln begründet wird, für den Arzt kaum hinreichend bestimmt. Die Strafgerichte unterliegen gerade bei der Anwendung generalklauselartiger Regelungen (siehe § 630e BGB) einer Präzisierungspflicht, die auf eine vorhersehbarkeitsfördernde Auslegung gerichtet ist.[52] Dem ist mit einer rechtsgutsbezogenen Präzisierung der relevanten Aufklärungspflichten in Zukunft Rechnung zu tragen.
f) Einschränkung durch den Schutzzweckzusammenhang
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Selbst wenn zivilrechtlich begründete Aufklärungspflichten nach dem Dargelegten erheblich bleiben, erscheint eine weitere Einschränkung zentral – die Anwendung des Schutzzweckzusammenhangs auch auf Aufklärungsfehler (dazu auch noch Rn. 541 ff.).[53] Schon der soeben zitierte 4. Strafsenat des BGH [54] geht davon aus, dass sich ein Arzt nicht „mit jedem nach einer mangelhaften Aufklärung (und folglich aufgrund unwirksamer Einwilligung) vorgenommenen Eingriff wegen Körperverletzung strafbar macht oder für alle sich aus dem Eingriff ergebenden Risiken strafrechtlich einzustehen“ hat.[55] Tatsächlich haben die Aufklärungspflichten nicht den Zweck, den indizierten Heileingriff als solchen zu verhindern oder zu verschieben. Führt etwa ein Arzt die verfahrensgegenständliche Behandlung lege artis durch, kann die Sorgfaltswidrigkeit nur aus seinem eigenen Aufklärungsfehler oder aus einer unzureichenden Einwilligungsprüfung folgen.[56] Wenn sich infolge einer grundsätzlich konsentierten Behandlung ein Risiko realisiert, das nicht in den Schutzbereich der konkret verletzten Aufklärungspflicht fällt, lässt sich ein zurechenbarer Erfolg aus dieser Pflichtverletzung nicht herleiten.[57] So lag es etwa in dem oben erwähnten Surgibone-Fall, in dem nicht feststand, dass sich in der tatbestandlichen Körperverletzung gerade das Risiko eines nicht hinreichend erläuterten Einsatzes der Rinderknochen niedergeschlagen hatte.[58]
g) Problem des Verschuldens bei Aufklärungsfehlern
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Der Strafrichter ist unzweifelhaft daran gebunden, den Angeklagten nur dann zu verurteilen, wenn er das ihm vorgehaltene Unrecht verschuldet hat. Deshalb muss die Verschuldensfrage, die in der Praxis des Zivilprozesses bei der Aufklärung leider oft nicht gestellt wird,[59] gerade im Strafverfahren auch unter dem Aspekt der persönlichenVorwerfbarkeit und konkret-individuellenVermeidbarkeit der Pflichtverletzung mit besonderem Nachdruck geprüft werden. Der Strafrichter darf sich nicht damit zufrieden geben, die im Einzelfall geleistete Aufklärung unter Hinweis auf einschlägige Zivilurteile als unzureichend zu qualifizieren, und daraus ohne weiteres – oder nur mit der formelhaften Wendung: dies sei auch schuldhaft – die Strafbarkeit des Arztes ableiten. Notwendig ist vielmehr eine eigenständige Bewertung des ärztlichen Verhaltens auf der Ebene der Schuld im Hinblick darauf, ob der Arzt im konkreten Fall nach seinen ihm eigenen Fähigkeiten und Kenntnissen imstande war, den Umfang der objektiv verlangten Aufklärung zu erkennen und zu erfüllen. Die subtile Prüfung der Verletzung der Aufklärungspflicht im Strafrecht nach einem subjektiven Maßstabunter den Gesichtspunkten Vorhersehbarkeit, Vermeidbarkeitund Zumutbarkeitist insbesondere vor dem Hintergrund einer nicht immer ohne weiteres verständlichen zivilgerichtlichen Judikatur geboten.[60]
Auch in dem schon geschilderten Myom-Fall[61] mahnte der BGH eine exakte Schuldprüfung im Rahmen der Aufklärungsproblematik an. Voraussetzung für die Fahrlässigkeitshaftung ist nach den Worten des Gerichts nämlich nicht nur die Aufklärung über die in Rede stehenden Risiken, sondern darüber hinaus auch die Kenntnisdes Arztes über alleUmstände, die die Patientin bei ordnungsgemäßer Aufklärung abgehaltenhätten, ihre Zustimmung zu erteilen.[62] In diesem Erfordernis liegt eine wichtige Einschränkung der Strafbarkeit, die in der Praxis aber meist zu Unrecht unerörtert bleibt.[63]
2. Der ärztliche Heileingriff als tatbestandsmäßige Körperverletzung
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Unzweifelhaft unterfallen nicht medizinisch indizierte Eingriffe, wie sie insbesondere bei Schönheitsoperationen, aber auch bei der Organentnahme vom Lebenden (§ 8 TPG), der Blutspende, dem Doping oder dem Schwangerschaftsabbruch innerhalb der ersten drei Monate nach Beratung gem. § 218a Abs. 1 StGB auftreten, den Tatbeständen der §§ 223 und 229 StGB.[64] Gleiches gilt für Körperbeeinträchtigungen, die auf Behandlungsfehlernberuhen. Die Rechtsprechung hat indes schon früh auch die lege artis durchgeführte Heilbehandlungals tatbestandliches Geschehen eingeordnet ( Rn. 344 ff.) und damit eine bis heute andauernde Kontroverse ausgelöst ( Rn. 348). Sie wird indes absehbar nicht dazu führen, dass Ärzte in Zukunft wieder pauschal von den strafrechtlichen Risiken des Aufklärungsfehlers befreit werden ( Rn. 349 ff.).
a) Die grundlegende Entscheidung des Reichsgerichts
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Ausgangspunkt der von vielen wahrgenommenen „Aufklärungsmisere“ ist die Entscheidung des Reichsgerichts vom 31.5.1894,[65] welche die Amputation des Fußes eines 7-jährigen Kindes gegen den erklärten Willen des Vaters trotz absoluter Indikation und erfolgreicher Operation als „Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit“ und damit „tatbestandsmäßige Körperverletzung“ qualifizierte. Dabei wies das Reichsgericht ausdrücklich darauf hin, dass der verfolgte Heilungszweck oder gar der Erfolg des Eingriffs dem Arzt ebenso wenig eine rechtliche Befugnis dazu gewähre wie das Berufsrecht, es vielmehr in erster Linie „der Willedes Kranken ist“, der den Arzt „legitimiert, Körperverletzungen straflos zu verüben“.[66] Seit diesem Urteil und damit seit mehr als 120 Jahren stellt jede mit einer Einwirkung auf die körperliche Integrität des Patienten verbundene Behandlungsmaßnahme, ohne Rücksicht darauf, ob sie erfolgreich verläuft“, und zwar auch die ärztlich indizierte, lege artis durchgeführte Heilbehandlung, also jede Anästhesie, jeder chirurgische Eingriff, jede Applikation eines Medikaments tatbestandsmäßig eine Körperverletzungdar und bedarf daher eines Rechtfertigungsgrundes, der zwar nicht ausschließlich, aber doch im Wesentlichen, in der Einwilligungdes Patienten zu suchen ist.[67]
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