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Erfüllt der Gesetzgeber hingegen seinen Nachbesserungsauftragund schafft er eine neue verfassungskonforme Regelung, richtet sich eine etwaige Strafbarkeit nach den Grundsätzen des § 2 Abs. 3 StGB: es ist also das mildeste Gesetz anzuwenden (s. § 369 Rn. 30 f.).
b) Steuerstrafrecht und Gleichheitsgrundsatz
aa) Das Gebot verfassungsmäßiger Vollzugsgleichheit
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Auch der Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GGhat nach der Rspr. des BVerfG Bedeutung für das Steuerrecht, insofern dieser verlangt, „dass die Steuerpflichtigen durch ein Steuergesetz rechtlich und tatsächlich gleich belastet werden“ („Gebot tatsächlich gleicher Steuerbelastung durch gleichen Gesetzesvollzug“).[36] Soweit diese Anforderungen durch die Steuernorm strukturell unterlaufen werden („strukturelles Vollzugsdefizit“[37] ), kann dies zur Verfassungswidrigkeit der materiellen Steuernorm führen[38] (s. Rn. 22).
bb) Die Folgen eines verfassungswidrigen Vollzugsdefizits
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Wird eine materielle Steuernorm durch das BVerfG für verfassungswidrig und nichtig erklärt, entfallen deren Rechtswirkungen ( Rn. 19), was auch einer darauf basierenden steuerstrafrechtlichen Verurteilung die Grundlage entzieht ( Rn. 19). Ordnet das BVerfG hingegen die befristete Weitergeltung( Rn. 18) der Steuernorm an, bleiben deren Rechtswirkungen zunächst erhalten und ermöglichen auch die steuerstrafrechtliche Sanktionierung.[39]
II. Methodik des Steuerstrafrechts
1. Die prozessuale Entscheidungsverantwortung des Strafgerichts in Steuerstrafsachen
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Wann ein steuerlicher Vorgang einem Steueranspruch unterliegt, ist durch das (Steuer-)Strafgerichtin eigener (straf-)prozessualer Verantwortung( § 385 Abs. 1i.V.m. § 261 StPO),[40] aber nach außerstrafrechtlichen, d.h. steuerrechtlichen Kriterien zu beurteilen.[41]
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Die prozessuale Entscheidungsverantwortung des Strafgerichts wird freilich ergänzt durch eine Gestaltungsverantwortung der übrigen Verfahrensbeteiligten, allen voran der Strafverteidigung[42] ( § 385 Abs. 1i.V.m. § 138 StPO, beachte § 392[43]), aber auch der beteiligten FinB ( § 403), für ein prozessordnungsgemäßes und materiell richtiges und gerechtes Ergebnis.
a) Keine Bindungswirkungen durch finanzgerichtliche oder -behördliche Entscheidungen
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Das (Steuer-)Strafgericht[44] unterliegt sowohl in rechtlicher als auch tatsächlicher Hinsicht, etwa hinsichtlich der Tatsachenfeststellungen, keinen Bindungswirkungendurch Gerichtsentscheidungen der Finanzgerichtsbarkeit( § 385 Abs. 1i.V.m. § 261 StPO).[45]
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Auch Entscheidungen der FinB entfaltengem. § 385 Abs. 1i.V.m. § 261 StPO keine Bindungswirkung für das Strafgericht,wiewohl ihnen im Einzelfall und im Rahmen freier richterlicher Beweiswürdigung Indizwirkung zukommen kann. Keine Bindungswirkung entfaltet etwa der ggf. bestandskräftige Steuerbescheid[46] oder auch die finanzbehördliche Schätzung der Besteuerungsgrundlagen(§ 162).[47] Übernehmen darf das (Steuer-)Strafgericht die Schätzungen der FinB nur dann, wenn es „von ihrer Richtigkeit unter Berücksichtigung der vom Besteuerungsverfahren abweichenden strafrechtlichen Verfahrensgrundsätze (§ 261 StPO) überzeugt ist“.[48] (zur strafgerichtlichen Schätzung im Steuerstrafverfahren s. Rn. 32).
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Keine Bindungswirkungentfalten auch (im Besteuerungsverfahren zulässige) Vereinbarungen zwischen StPfl. und FinB über den steuerlichen Sachverhalt (sog. tatsächliche Verständigung).[49]
b) Die Aussetzung des Verfahrens zugunsten des Besteuerungsverfahrens
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Das (Steuer-)Strafgericht ist in Ausübung pflichtgemäßem Ermessens befugt, das Verfahren auszusetzenbis zum rechtskräftigen Abschluss des Besteuerungsverfahrens (vgl. § 396) (Details s. § 396 Rn. 1 ff.).[50] Es besteht allerdings kein Rechtsanspruch auf eine Aussetzung;[51] die Ablehnung eines Antrags auf Aussetzung ist nach h.M. unanfechtbar, kann aber im Rahmen der Revision (Verfahrensrüge) gerügt werden.[52] Da sie häufig zu Verzögerungen des Verfahrens führt, kommt die Aussetzung gleichwohl in der Praxis eher selten zum Einsatz.[53]
c) Der Einsatz sachverständiger Hilfe im Steuerstrafverfahren
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Reicht in Fällen der Aufklärung wirtschaftlicher Sachverhaltedie Sachkunde des (Steuer-)Strafgerichtsnicht aus, etwa im Rahmen der Feststellung des Steueranspruchs oder der Bezifferung des Steuerschadens, hat sich das Gericht sachverständiger Hilfezu bedienen (§ 385 Abs. 1 i.V.m. arg. e contr. § 244 Abs. 4 S. 1 StPO).
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Sachverständige dürfen ihre Expertise nur hinsichtlich Tatsachenabgeben; die Kenntnis des inländischen Rechts ist Sache des (Steuer-)Strafgerichts („Iura novit Curia“).[54] Ausländisches Rechtist hingegen nach allg. Regeln Tatsache und ggf. mittels Sachverständigenbeweiseszu ermitteln.[55]
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Eine wichtige Rolle als Sachverständige spielen die Beamten der FinB(Finanzbeamte, Beamte der Steuer- oder Zollfahndung oder des Zollkriminalamts etc.).[56] Probleme können sich allerdings ergeben, wenn die Beamten der FinB selbst an Ermittlungen beteiligt waren. In diesem Fällen ist die Ablehnung gem. § 385 Abs. 1i.V.m. § 74 StPO möglich und auch angezeigt.[57]
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Eine Besonderheit ist die Zulässigkeit der gerichtlichen Schätzung von Besteuerungsgrundlagen im Steuerstrafverfahren(Details s. § 370 Rn. 201 ff.).[58] Diese hat das Gericht unter Zuhilfenahme anerkannter Erfahrungssätze und Schätzungsmethodendurchzuführen und nachvollziehbar in den Urteilsgründen darzulegen.[59]
d) Exkurs: Die Entscheidungsverantwortung der Finanzgerichte
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Der Grundsatz der Entscheidungsverantwortung der (Steuer-)Strafgerichte findet seine Entsprechung in der Finanzgerichtsbarkeit. Auch das Finanzgericht unterliegt seinerseits keinen Bindungswirkungen durch Entscheidungen der Strafgerichte.[60] Der BFH hat hierzu kürzlich ausgeführt, dass auch der Freispruch in einem Strafverfahren das Finanzgericht nicht hindere, „aufgrund eigener Feststellungen zur vollen Überzeugung einer Steuerhinterziehung zu gelangen“.[61] Allerdings könne, so der BFH, sich das Finanzgericht „die tatsächlichen Feststellungen des Strafgerichts zu eigen machen“ wenn dieses kraft seiner Entscheidungsverantwortung (§ 96 Abs. 1 S. 1 FGO) zu dem Schluss kommt, dass „diese Feststellungen zutreffend sind und keine substantiierten Einwendungen gegen die Feststellungen des Strafgerichts erhoben werden“.[62]
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Daneben ist das Finanzgericht in Ausübung pflichtgemäßem Ermessens befugt, das finanzgerichtliche Verfahren auszusetzen, wenn es von einem in einem anderen Rechtsstreit verhandelten Rechtsverhältnis abhängig ist, wozu auch das Strafverfahren gehören kann (§ 74 FGO).[63]
2. Die materielle Entscheidungsverantwortung des Strafgerichts in Steuerstrafsachen
a) Grundlagen der Rechtsanwendung im Steuerstrafrecht
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Die Ermittlung der Voraussetzungen der Strafbarkeitim Steuerstrafrecht ist Aufgabe der (Steuer-)Strafgerichte (Art. 92 GG)[64] und erfolgt durch Auslegung. Auslegung ist die Ermittlung der Bedeutung des Gesetzes.
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