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Im Regelfall wird der Außenprüfer keine Einleitung vornehmen, sondern nach § 10 Abs. 1 BpO 2000 die für die Bearbeitung der Straftat zuständige Stelle, also die Steufa oder BuStra, unterrichten. Wird der Anfangsverdacht gegen den Steuerpflichtigen bejaht, dürfen nach einer verwaltungsinternen Anweisung, die Ermittlungen hinsichtlich des Sachverhaltes, auf den sich der Verdacht bezieht, erst fortgesetzt werden, wenn dem Steuerpflichtigen die Einleitung des Strafverfahrens mitgeteilt worden ist.[4] In der Praxis wird erfahrungsgemäß die Betriebsprüfung gänzlich unterbrochen bis die Einleitung des Strafverfahrens bekanntgegeben bzw. eine ggf. angezeigte Durchsuchungsmaßnahme vollstreckt worden ist. Dies erscheint angesichts des materiellen und prozessualen Tatbegriffs der Steuerhinterziehung, der bspw. die Einkommensteuer 2009 mit sämtlichen steuererheblichen Sachverhalten des Veranlagungsjahres und nicht nur bestimmte Einzelsachverhalte einer Einkunftsart erfasst, die verfahrensrechtlich richtige Vorgehensweise.
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Anknüpfend an den prozessualen Tatbegriff des § 264 StPO hat das OLG Braunschweig eine Ermittlungskompetenz der FinB auch für Nichtsteuerstraftaten angenommen.[5] So liegt es nahe, dass im Rahmen der Ermittlung einer Steuerhinterziehung bei der Auswertung von Handels- und Geschäftsbüchern, Grundaufzeichnungen, Belegen, Rechnungen u.Ä., auch Urkundenfälschungen gem. § 267 StGB aufgedeckt werden. Durch die Erweiterung des Strafverfahrens auf außersteuerliche Delikte verliert die FinB zwar ihre selbstständige Verfahrensherrschaft gem. § 386 Abs. 2 AO, aber nicht ihre (unselbstständige) Ermittlungskompetenz gem. §§ 386 Abs. 1, 402 AO.[6] Da die Ermittlungsbefugnis vorliegend aus polizeilichen Befugnissen abgeleitet wird, kann für die Einleitungsbefugnis nichts anderes gelten. Die Reichweite der Einleitungsbefugnis der FinB bei einem Anfangsverdacht einer Nichtsteuerstraftat ist, wie unter Rn. 27ausgeführt, umstritten. Der BGH erkennt eine (unselbstständige) Ermittlungsbefugnis für den Fall der Tateinheit zwischen eine r Steuerstraftat und einer Nichtsteuerstraftatohne weiteres an.[7] Das OLG Braunschweig lässt eine prozessuale Tat i.S.d. § 264 StPO genügen. (vgl. dazu Rn. 27) In der Praxis sollte im Zweifel, soweit es das Steuergeheimnis (§ 30 Abs. 4 Nr. 4 1. Fall AO) zulässt, unverzüglich Kontakt mit der zuständigen StA aufgenommen werden, um das weitere Vorgehen im Hinblick auf das Allgemeindelikt abzustimmen und ggf. verjährungsunterbrechende Maßnahmen rechtzeitig einzuleiten.
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Eine Entscheidung hinsichtlich des Verfahrensabschlusses wegen der Nichtsteuerstraftatbleibt in jedem Fall der StA vorbehalten, da sie kraft Gesetz bereits mit Begründung des Anfangsverdachts die Verfahrensherrschaft nach § 386 Abs. 1 AO und nicht nach § 386 Abs. 4 S. 1 AO erlangt. Sie hat jedoch die Möglichkeit bereits während der Ermittlungen von der verfahrensrechtlichen Abtrennung des Vorwurfs der Nichtsteuerstraftat Gebrauch zu machen und die verbleibende Steuerstraftat im Benehmen mit der FinB wieder an diese zurückzugeben (Nr. 140 Abs. 3 AStBV, vgl. Rn. 44).[8] Dies hat zur Folge, dass die FinB hinsichtlich der verbleibenden Steuerstraftat wieder ihre selbstständige Verfahrensherrschaft nach § 386 Abs. 2 AO mit Abschlussbefugnis zurück erhält. Diese Vorgehensweise hat sich in der Praxis durchaus bewährt, setzt aber voraus, dass die FinB mit ihrer StA zusammenarbeitet und den prozessualen Tatbegriff im Auge behält (vgl. Rn. 26 f.).
[1]
Franzen/Gast/Joecks/ Jäger § 397 Rn. 12.
[2]
Franzen/Gast/Joecks/ Jäger § 397 Rn. 13.
[3]
BVerfG 5.5.2000 – 2 BvR 2212/99; BVerfG 6.3.2002 – 2 BvR 1619/00.
[4]
BMF -Schreiben vom 20.7.2001 – IV D 2 – S 0403-3/01; BStBl I 2001, 502.
[5]
OLG Braunschweig wistra 1998, 71.
[6]
Franzen/Gast/Joecks/ Randt § 386 Rn. 26 f.
[7]
BGH wistra 1990, 59.
[8]
Kohlmann/ Peters § 386 Rn. 102.
Inhaltsverzeichnis
A. Grundlagen und Systematik
B. Das Akteneinsichtsrecht des Beschuldigten bzw. seines Verteidigers gem. § 147 Abs. 1 StPO
C. Das Akteneinsichtsrecht des Nebenbeteiligten
D. Das Akteneinsichtsrecht öffentlicher Stellen gem. § 474 StPO
E. Das Akteneinsichtsrecht der Finanzbehörden gem. § 395 AO
F. Das Akteneinsichtsrecht des Verletzten gem. § 406e Abs. 1 StPO
G. Das Akteneinsichtsrecht sonstiger Personen gem. § 475 Abs. 1, 2 StPO
Literatur:
Beulke/Witzigmann Das Akteneinsichtsrecht des Strafverteidigers in Fällen der Untersuchungshaft, NStZ 2011, 254; Burkhard Akteneinsichtsrecht des Strafverteidigers in Steuerstrafverfahren – hierzu gehört u.a. auch der rote Bogen und das Fallheft des Betriebsprüfers, StV 2000, 526; Donath/Mehle Akteneinsichtsrecht und Unterrichtung des Mandanten durch den Verteidiger, NJW 2009, 1399; Jahn/Lips Hat der Strafverteidiger die Pflicht bei der Rekonstruktion außer Kontrolle geratener Verfahrensakten mitzuwirken?, StraFo 2004, 229; Kümmel Das Akteneinsichtsrecht des Verletzten nach § 406e StPO und das Steuergeheimnis nach § 30 AO – ein in Korruptionsverfahren unauflösliches Spannungsverhältnis?, wistra 2014, 124; Müller-Jacobsen/Peters Schwarzmalerei in Steuerstrafsachen, wistra 2009, 458; Peglau Akteneinsichtsrecht des Verteidigers in Untersuchungshaftfällen, JR 2012, 231; Riedel/Wallau Das Akteneinsichtsrecht des „Verletzten“ in Strafsachen – und seine Probleme, NStZ 2003, 393; Schlothauer Zu den Grenzen des Akteneinsichtsrechts des Verletzten nach StPO § 406e und der gerichtlichen Nachprüfbarkeit einer Ankündigung der Staatsanwaltschaft, dem Verletzten Akteneinsicht zu gewähren, StV 1988, 334; Thomas Der Diskussionsentwurf zur Verbesserung der Rechte des Verletzten im Strafverfahren – ein Stück Teilreform?, StV 1985, 431.
5. Kapitel Akteneinsicht› A. Grundlagen und Systematik
A. Grundlagen und Systematik
1
Das nachfolgend im Einzelnen dargestellte Akteneinsichtsrecht der StPO[1] ist von zentraler Bedeutung für Beschuldigte (§ 147 StPO)[2], Verletzte (§ 406e StPO), öffentliche Stellen (§ 474 StPO, § 395 AO) und sonstige Dritte (§ 475 StPO) zur Erlangung von Informationen, die im Zuge von Straf-[3] und Ordnungswidrigkeitenverfahren[4] von staatlichen Behörden erhoben werden.[5] Grundsätzlich gilt dabei: Die Geheimhaltung entsprechender Informationen ist die Regel, die Gewährung der Akteneinsicht die Ausnahme. Das Recht auf Akteneinsicht bedarf daher stets der gesetzlichen Legitimationund einer Begründung des Antragstellers, die geeignet ist, sein Recht auf Akteneinsicht und dessen Reichweite, d.h. den Umfang der Akteneinsicht, im Einzelfall zu rechtfertigen. Anderenfalls ist die Gewährung der Akteneinsicht zu versagen.
2
Die Anforderungen, die an die Begründung eines solchen Akteneinsichtsrechts zu stellen sind, sind der jeweiligen Norm, auf die das Akteneinsichtsrecht gestützt wird, zu entnehmen.[6] Aus der Systematik des Rechts auf Akteneinsicht folgt zudem, dass der Betroffene anzuhörenund in aller Regel eine Interessenabwägungzwischen den persönlichen Interessen des Betroffenen bzw. dem staatlichen Interesse an der Geheimhaltung entsprechender Informationen und dem Interesse des Antragstellers auf Akteneinsicht vorzunehmen ist, bevor die Entscheidung über die Gewährung der Akteneinsicht ergeht und die Einsicht in die Akte gewährt wird. Soweit der Gesetzgeber in Ausnahmefällen bereits selbst eine solche Interessenabwägung vorgenommen hat und die Gewährung der Akteneinsicht entweder ganz oder teilweise von der Eigenschaft des Antragstellers („Beschuldigter“, „Nebenkläger“, „Justizbehörden“) oder dem Zweck der Akteneinsicht ( zu Zwecken der Rechtspfleg e ) abhängig macht, sind (nur) diese Eigenschaften und Zwecke Gegenstand der Prüfung, ob und in welchem Umfang das Recht auf Akteneinsicht besteht. Ob die Akteneinsicht alsdann auch unmittelbar und in vollem Umfang gewährt werden kann, oder ob die Voraussetzungen für Beschränkungen (bspw. die Gefährdung des Ermittlungszwecks i.S.d. § 147 Abs. 2 S. 1 StPO) vorliegen, ist eine Frage des Einzelfalls.
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