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Die Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit sind im 17. Abschnitt des Strafgesetzbuches geregelt. Vor der Umbenennung durch das 6. StrRG lautete die Überschrift des Abschnittes „Körperverletzungsdelikte“. Damit kam die objektiv-körperliche Betrachtung der Verletzungsdelikte zum Ausdruck, welche auch nach der Umbenennung noch gilt.[2] Die dort zu findenden Tatbestände der §§ 223 ff. StGBschützen die körperliche Unversehrtheit und die Gesundheit des Menschen.[3] § 223 StGB stellt den Grundtatbestand dar. Die Qualifikationstatbestände der §§ 224, 226 Abs. 2 sowie § 340 StGB (Körperverletzung im Amt) zeichnen sich durch gesteigertes Handlungsunrecht aus. Die Erfolgsqualifikationstatbestände der § 226 Abs. 1 und § 227 StGB beinhalten ein erhöhtes Erfolgsunrecht (besonders schwere Tatfolgen). § 229 StGB regelt die Strafbarkeit der fahrlässigen Körperverletzung. § 225 StGB umschreibt einerseits Qualifikationstatbestände des § 223 StGB, enthält andererseits aber auch einen selbstständigen Anwendungsbereich, sofern es um das Verursachen seelischer Beeinträchtigungen geht.[4] Solche Beeinträchtigungen sind von § 223 StGB nicht erfasst. Der im Jahr 2013 eingefügte § 226a StGB (Genitalverstümmelung) ist ein Sondertatbestand.[5] § 228 StGB bestimmt, dass eine Einwilligung in die Körperverletzung, die gegen die guten Sitten verstößt, rechtswidrig ist. Damit wird gesetzlich die Dispositionsbefugnis des*der Rechtsgutinhabers*Rechtsgutinhaberin umschrieben und verdeutlicht, dass die Einwilligung der verletzten Person einer Körperverletzung grundsätzlich die Rechtswidrigkeit nimmt. Schließlich bestimmt § 230 StGB die Antragsbedürftigkeit der einfachen vorsätzlichen Körperverletzung (§ 223 StGB) sowie der fahrlässigen Körperverletzung (§ 229 StGB); in § 231 StGB wird die Beteiligung an einer Schlägerei unter Strafe gestellt.
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Neben den Regelungen des 17. Abschnitts gibt es weitere Regelungen, die (auch) die körperliche Unversehrtheit schützen. So kennt das StGB die Körperverletzung im Amt als Qualifikationstatbestand zu § 223 StGB (§ 340 StGB, siehe oben), die Wehrpflichtentziehung durch Verstümmelung (§ 109 StGB, vgl. dazu → BT Bd. 4: Henning Ernst Müller , Straftaten zum Schutz der Landesverteidigung, § 18 Rn. 16 ff.) und den Missbrauch ionisierender Strahlen (§ 311 StGB). Auch die Straßenverkehrsdelikte (§§ 315 ff. StGB) erfüllen in Teilbereichen die Funktion, die körperliche Unversehrtheit zu schützen. Im Nebenstrafrecht sind von Bedeutung insbesondere die §§ 95 ff. AMG, §§ 13, 29 Abs. 1 Nr. 6 BtMG, §§ 74 f. IfSG, § 7 KastrG, §§ 17, 25, 30 WStG, §§ 40 f. MPG, §§ 18 f. TPG und in Grenzen auch § 31 TFG.[6]
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Die Tatbestände der §§ 223 ff. StGB erfassen insbesondere wesentliche Teile der sog. (vorsätzlichen) Gewaltkriminalität. Dieser kommt in der kriminalpolitischen Debatte und in der Medienberichterstattung über Straftaten eine besonders hervorgehobene Rolle zu, die in einem gewissen Widerspruch zu ihrer quantitativen Bedeutung steht. Die Kategorie Gewaltkriminalität in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS), die verschiedene Gewaltstraftaten (ohne einfache Körperverletzung) umfasst, macht mit knapp 3 % aller registrierten Straftaten nur einen geringen Anteil an der erfassten Gesamtkriminalität aus.[7] Im Gegensatz dazu werden Straßenverkehrsdeliktezwar deutlich seltener thematisiert und erscheinen demnach als ein geringeres gesellschaftliches Problem. Ihre zahlenmäßige Bedeutung im Bereich der Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit ist jedoch erheblich, namentlich die der fährlässigen Körperverletzung (§ 229 StGB).
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Der rechtliche Bereich der Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit in den §§ 223 bis 231 StGB und die tatsächlichen Phänomene der Gewalt überschneiden sich großflächig, sind aber nicht deckungsgleich. Einerseits ist Gewalt auch in anderen Tatbeständen Deliktsmerkmal, sodass diese Normen ebenfalls Gewalt bestrafen. Andererseits definieren sich die Körperverletzungsdelikte über das Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit und erfassen somit auch Handlungen, die nicht der klassischen Gewaltkriminalität zugeordnet werden, wie etwa Verletzungen im Straßenverkehr. Seit jeher besteht im deutschen Rechtskreis die Tendenz, die Verletzungsdelikte auf körperliche Eingriffe zu beschränken und seelische Verletzungen außer Betracht zu lassen. Eine Ausnahme hiervon bildet lediglich der Tatbestand des § 225 StGB (1933 eingeführt als § 223b StGB). Die jüngere Entwicklung deutet allerdings auf eine Änderung in dieser Frage zumindest außerhalb der klassischen Körperverletzungsdelikte hin, wie der Tatbestand der Nachstellung (§ 238 StGB, vgl. Rn. 120 f.) und die Rechtsprechung zu Mobbing-Fällen ( Rn. 36) zeigen.
1. Abschnitt: Schutz von Leib und Leben› § 4 Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit› B. Grundlagen
B. Grundlagen
I. Verfassungsrechtliche Vorgaben aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG
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Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verbürgt als Grundrecht die körperliche Unversehrtheit verfassungsrechtlich, unabhängig von der Staatsbürgerschaft. Diese Verankerung des Schutzes der körperlichen Unversehrtheit ist verfassungshistorisch relativ neu, der einfachrechtliche Rechtsgüterschutz ist älter. So ist das ausdrückliche Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verfassungsrechtliches Novum des Grundgesetzes, bis dahin erfolgte der Schutz des Rechtsguts nur einfachrechtlich durch das Strafrecht.[8] Gleichwohl war das Recht auf körperliche Unversehrtheit auch vor dem Grundgesetz verfassungsrechtlich nicht irrelevant, sondern wurde als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt. Diese wurde jedoch durch die nationalsozialistischen Herabwürdigungen, beispielsweise des sog. lebensunwerten Lebens, in extremer Weise untergraben, weshalb sich eine ausdrückliche Normierung im Grundgesetz empfahl.[9]
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Als Grundrecht ist Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG in erster Linie ein Abwehrrecht, das vor nicht nur geringfügigen Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit schützt.[10] Damit besteht auch außerhalb des strafrechtlichen Verbotes der §§ 223 ff. StGB ein grundgesetzlicher Abwehranspruch bezüglich Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit zumindest gegenüber dem Staat.[11] Neben dem Abwehranspruch folgt aus dem Grundrecht aber auch ein Schutzanspruch der einzelnen Person, welcher sowohl durch präventive polizei- und ordnungsrechtliche Vorschriften, als auch durch das repressive Strafrecht erfüllt werden kann,[12] da die herrschenden Strafzwecktheorien Straftatbeständen (auch) eine präventive Funktion[13] beimessen. Dementsprechend können die §§ 223 ff. StGB als eine konkretisierende Ausgestaltung der aus dem Grundrecht folgenden Schutzpflicht verstanden werden. In jüngerer Zeit wurde der Schutzanspruch beispielsweise durch das Gewaltschutzgesetz vom 11. Dezember 2001[14] umgesetzt, wie auch durch die polizeirechtlichen Befugnisse zur Wohnungsverweisung.[15] Zusammengefasst kann Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG als Auftrag an den Gesetzgeber gelesen werden, die Bürger*innen vor rechtswidrigen Angriffen auf die körperliche Unversehrtheit auch durch das Strafrecht zu schützen, wobei die konkrete Umsetzung – wie stets – dem Gesetzgeber überlassen ist.[16]
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Die Fassung des Schutzgutes in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG entspricht dem des Rechtsguts in den §§ 223 ff. StGB, sodass die verfassungsrechtlichen Vorgaben weder eine erweiternde noch eine restriktive Auslegung der Körperverletzungstatbestände nahelegen.[17] Beispielsweise kann dem Grundrecht kein Auftrag an den Gesetzgeber entnommen werden, rein psychische Belastungen strafrechtlich als Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit zu erfassen. Die Auslegung des Grundrechts und der §§ 223 ff. StGB, die jeweils die körperliche Unversehrtheit schützen, erfolgt vielmehr synchron.[18] Dies ändert freilich nichts daran, dass das Verständnis vom Umfang des Schutzanspruchs erheblichen Veränderungen unterliegt, wie etwa die ältere Rechtsprechung des BGH zum körperlichen Züchtigungsrecht von Lehrkräften bzw. von Eltern gegenüber Kindern zeigt. Danach war die körperliche Züchtigung zwar tatbestandsmäßig, aber gerechtfertigt.[19]
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