e) Exkurs: Schwangerschaftsabbruch bei einer einwilligungsunfähigen Schwangeren
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Gleichsam wie bei einer minderjährigen Schwangeren, der unter Umständen noch keine vollständige Einsichts- und Urteilsfähigkeit zukommt, so ist auch bei einer volljährigen einwilligungsunfähigen Schwangeren, beispielsweise bei einer medizinischen Notfallsituation, die Einwilligungsfähigkeit in einen ärztlichen Eingriff beeinträchtigt bzw. zeitweilig oder gar dauernd aufgehoben.[207] Auch bei der Schwangerschaft einer geistig stark beeinträchtigten Frau stellt sich die Frage, ob und wenn ja, wer rechtsverbindlich in einen Schwangerschaftsabbruch einwilligen kann. Gemäss § 1896 Abs. 1 BGB hat das Betreuungsgericht auf Antrag oder von Amtes wegen eine Betreuung zu bestellen, wenn „ein Volljähriger auf Grund einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung seine Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen“ kann. Da die Frage nach der Einwilligung eines Betreuers in einen Schwangerschaftsabbruch keine gesonderte Regelung erfahren hat, finden die Normen von §§ 1904 ff. BGB grundsätzlich Anwendung.[208] In der Lehre und Rechtsprechung besteht allerdings Uneinigkeit darüber, ob im Falle der Einwilligungsunfähigkeit einer Schwangeren ein Betreuer im Sinne von § 1896 BGB die Einwilligung zur Vornahme eines Schwangerschaftsabbruchs geben kann und darf.[209] Deshalb kann die Frage, ob ein Betreuer innert den ersten zwölf Schwangerschaftswochen entgegen dem Wortlaut von § 218a Abs. 1 StGB, welcher ein „Verlangen der Schwangeren“ erfordert, zur Einwilligung in einen Schwangerschaftsabbruch berechtigt ist, mangels Konsens in der Lehre nicht abschließend beantwortet werden.[210] Allerdings muss bei einer medizinischen Notlagenindikation im Sinne von § 218a Abs. 2 StGB eine Einwilligung des Betreuers in einen Schwangerschaftsabbruch trotz der generellen höchstpersönlichen Natur der Einwilligung zulässig sein.[211] Generell bleibt im Falle der Einwilligungsunfähigkeit einer Schwangeren zu beachten, dass ein allfälliger Betreuer den Entscheid über einen Abbruch der Schwangerschaft primär nach Maßgabe des Wohls der Schwangeren und im Sinne ihres mutmaßlichen Willens zu fällen hat.[212]
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Als Spätabtreibungen gelten Schwangerschaftsabbrüche, welche in der Spätphase der Schwangerschaft vorgenommen werden, d.h. nach der 20. Schwangerschaftswoche.[213] Die große Problematik bei Spätabbrüchen stellt die extrauterine Lebensfähigkeit des Fötus dar.[214] Denn die extrakorporale Lebensfähigkeit eines Kindes tritt in der Regel ab der 22. Schwangerschaftswoche, teilweise auch früher, ein.[215] Die Hauptindikation für die Vornahme eines Spätabbruchs ist eine zu erwartende Behinderung des ungeborenen Kindes, womit die Schwangere ohne Erleiden eines Gesundheitsschadens nicht leben könnte.[216] Während früher zur Vornahme eines Spätabbruchs eine Frühgeburt eingeleitet wurde, wird das Ungeborene heutzutage meistens bereits im Mutterleib, sei es durch Injektion von Kalium-Chlorid in die Herzmuskulatur des Ungeborenen bzw. durch eine Injektion der genannten Substanz in die Nabelschnur, abgetötet (sog. Fetozid).[217] Wird im Rahmen eines Spätabbruchs ein mithilfe ärztlicher Maßnahmen überlebensfähiges Kind geboren, so stellt sich die Frage, ob ein Verzicht auf Hilfsmaßnahmen, welcher den Tod des Neugeborenen bewirkt, als Schwangerschaftsabbruch oder aber als Tötungshandlung zu qualifizieren sei.[218] In der Lehre wird diese Problematik wie folgt gelöst: Ein Schwangerschaftsabbruch wird angenommen, wenn die Abbruchshandlung zu einer Frühgeburt des Kindes führt, dieses jedoch aufgrund der mangelnden Ausreifung oder aber als unmittelbare Folge des Eingriffs nach der Geburt stirbt.[219] Ist das aufgrund eines Schwangerschaftsabbruchs zu früh geborene Kind jedoch lebensfähig und wird es nach der Geburt durch eine weitere Handlung, welche auch in einem Unterlassen bestehen kann, getötet, so liegt nebst einem versuchten Schwangerschaftsabbruch eine vollendete Tötungshandlung (durch Unterlassen) in Tatmehrheit vor.[220] Der den Abbruch durchführende Arzt ist gegenüber dem lebenden Frühgeborenen „zur Sicherstellung einer intensiv-neonatologischen Versorgung verpflichtet.“[221]
3. Persönlicher Strafausschlussgrund der Schwangeren (Abs. 4)
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Wird die Schwangerschaft innerhalb von 22 Wochen seit der Empfängnis durch einen Arzt abgebrochen, macht sich eine Schwangere im Sinne eines persönlichen Strafausschließungsgrundes gemäss § 218a Abs. 4 S. 1 StGB nicht nach § 218 StGB strafbar.[222] Der abbrechende Arzt verstößt allerdings gegen die Strafnorm von § 218 StGB, da ein Arzt mangels Indikation (§ 218a Abs. 2 StGB) nur innerhalb der ersten zwölf Wochen seit der Empfängnis einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen darf (§ 218a Abs. 1 StGB).[223] Die Straflosigkeit der Schwangeren setzt zudem voraus, dass im Vorfeld ein Schwangerschaftsberatungsgespräch stattgefunden hat, wobei anders als in § 218a Abs. 1 Nr. 1 StGB keine dreitägige Karenzfrist zwischen der Beratung und dem Schwangerschaftsabbruch eingehalten werden muss.[224]
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Selbst wenn ein Schwangerschaftsabbruch ohne Vorliegen einer Indikation nach Ablauf von 22 Wochen seit der Empfängnis ohne jegliches Beratungsgespräch oder ohne ärztliche Durchführung stattfindet, kann gemäss § 218 Abs. 4 S. 2 StGB von einer Bestrafung der Schwangeren nach § 218 StGB abgesehen werden, wenn sie sich zur Zeit des Eingriffs in besonderer Bedrängnis befunden hat.[225] Kurz gefasst greift § 218 Abs. 4 S. 2 StGB dann, wenn keine anderweitigen Straffreistellungsgründe im Sinne von § 218a Abs. 1–3 StGB zur Anwendung gelangen können.[226] Da dieser persönliche Strafausschlussgrund der Schwangeren eine Kann-Vorschrift darstellt, muss im Sinne einer Einzelfallbetrachtung abgewogen werden, ob eine Subsumption unter die besagte Gesetzesnorm angezeigt ist.[227] Um eine mögliche „Aushöhlung“ des in § 218 StGB festgehaltenen Schwangerschaftsabbruch-Verbots vorzubeugen, wird eine restriktive Auslegung von § 218a Abs. 4 S. 2 StGB gefordert.[228] Was unter einer besonderen Bedrängnis zu verstehen ist, wird gesetzlich nicht definiert, doch vermag eine Schwangerschaft als solche kaum einen Schwangerschaftsabbruch nach § 218a Abs. 4 S. 2 StGB zu rechtfertigen.[229]
V. Schwangerschaftsabbruch ohne ärztliche Feststellung oder mit unrichtiger ärztlicher Feststellung (§ 218b StGB)
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§ 218b StGB zielt darauf ab, die Einhaltung des Verfahrens zur Indikationsfeststellung sicherzustellen.[230] Mittelbar wird durch diese Gesetzesnorm aber auch das ungeborene menschliche Leben geschützt.[231] In § 218b StGB wird daher eine Entscheidungshilfe, welche in der Indikationsfeststellung durch einen weiteren Arzt besteht, normiert.[232]
1. Verstoß gegen das Feststellungsverfahren (Abs. 1)
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Vorweg sei erwähnt, dass sich nach § 218b Abs. 1 StGB grundsätzlich nur ein Arzt strafbar machen kann.[233] Basierend auf dem Gesetzeswortlaut trifft dies zwar lediglich für § 218b Abs. 1 S. 2 StGB zu, doch auch für § 218b Abs. 1 S. 1 StGB kann als unmittelbarer Täter nahezu ausnahmslos nur der Arzt in Betracht gezogen werden.[234] Die Schwangere wird gemäss § 218b Abs. 1 S. 3 StGB im Sinne eines persönlichen Strafausschließungsgrundes nicht von der Strafnorm in § 218b StGB erfasst.[235] § 218b Abs. 1 S. 2 StGB (und faktisch auch § 218b Abs. 1 S. 1 StGB) stellt demzufolge ein echtes Sonderdelikt dar.[236] Aufgrund der gesetzlich normierten Subsidiaritätsklausel kann sich jemand nach § 218b StGB nur dann strafbar machen, sofern die Handlung nicht bereits durch § 218 StGB mit Strafe bedroht ist.[237] Allerdings ist ein Täter nach § 218b StGB zu bestrafen, wenn er irrigerweise davon ausgeht, dass eine Indikation im Sinne von § 218a Abs. 2 oder 3 StGB vorliegt.[238]
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