Eine Werbung wurde eingeblendet. Er war noch nie anfällig für Werbung gewesen. Daher war Lyrie auch nicht gecrispert. Die Kurzens von schräg gegenüber, die hatten entschieden, dass ihr Sohn schwarz sein sollte, damit seine Erfahrungen ernst genommen würden. Man konnte sich schließlich dagegen entscheiden, lächerlichen Privilegien hinterherzuhecheln, und stattdessen seinem Kind die wahre Erfahrung des an den Rand Gedrängten vermitteln, was ihn zu einem besseren Menschen machen würde. Soweit Sandor wusste, war der Sohn der Kurzens jedoch auffällig geworden und verbrachte die Sommer in einem Ferienlager mit Pädagogen für gravierende Fälle, aber das könnte auch nur ein Gerücht sein. Auch für den Slogan zur Bewerbung des Logs selbst hatte er sich nie erwärmen können: Das Marketing hatte sich schon vor Jahrzehnten auf »Log it« eingeschossen. »Termin? Log it. Tasks? Log it. Kalorien? Log it.« Ein Punk, ein Mann im Anzug und eine Großmutter sprachen diese Sätze, das Personal, das in der Werbung einfach alles loggte, wurde ständig erweitert. Jetzt hatte sich das Marketingteam des Logs wohl endlich, nach all dieser Zeit, einen neuen Slogan geleistet: »Der Mensch ist die Summe seiner Gedanken.« Besser war das nicht, fand Sandor, als das ewige »Log it!«, es klang sperrig und neue Ideen gab es offensichtlich ohnehin keine.
»Soll der Log Sie über das Wetter informieren?«, er schnaubte ein Lachen. Sandor konnte sehen, dass die Sonne schien. In einer Stunde würde er vor der Kamera stehen und genau das den Zuschauern des Aufrichtigen Äthers sagen.
Im Jahr 1016 des Konsuls
Kein Signal .
In den weißen Zelten war Vibe an Vibe gereiht, auf jeder Box stand ein Name. Der Teambuilder erklärte, dass es ihm natürlich leidtat, dass sie ihren Tag mit ihm verbringen mussten. Dass sie sich nicht, wie sie es sonst vielleicht vorgezogen hätten, durch die Langeweile scrollen durften. Emma schnaubte. Niemand scrollte mehr. Aus welchem Jahrhundert war der Typ? Sie war sicher, dass niemand in diesem Zelt mehr geduldig einen Newsfeed hinunterscrollte, sondern springend über Metatags von Plattform zu Plattform hüpfte. Wer einen Log hatte, hatte am ersten Tag die Option gewählt »auf allen Plattformen anmelden«, alles andere war blödsinnig und lieferte kein gutes Gesamtbild der Welt. Alle Informationen von nur einem Anbieter zu bekommen, zu scrollen, war so, als bettelte man darum, von Propaganda gelenkt zu werden. Davor beschützten einen der Log und die Jumps, die er ermöglichte. Jackie murmelte etwas, sie stand aufrecht neben Emma.
Sie legten sich in ihre Boxen. Hier gab es keine Optionen auszuwählen, keine alten Single Player Spiele. Man wurde in jene virtuelle Welt befördert, die der Kurs verlangte. »Hier gibt es ausschließlich Multiplayer. Menschen in einer Gruppe, diejenigen, die sich zugehörig fühlen, radikalisieren sich weniger, sind weniger aggressiv«, murmelte Jackie. Wie passend, dachte Emma. Eine Menge einzelgängerischer Teenager wurden zur Interaktion gezwungen. Der Einstiegskurs war eine Gemeinschaftsübung. Man sollte gemeinsam ein Stück Wald zivilisieren. In Wahrheit war das albern, wenn man bedachte, dass sie mitten im Wald saßen. Aber im echten Wald wäre das Töten von Bären zu gefährlich gewesen. Auch sahen die Tiere im Vibe nicht aus wie echte Tiere, sondern jene, die man füttern sollte, waren entsetzlich niedlich mit buschigen Schwänzen und runden kleinen Gesichtern, stupsnasig. Doch was man töten sollte, hatte Säbelzähne und wütende rote Augen. Emma hielt sich im Hintergrund. Die durch die Luft fliegenden Punktestände gingen ihr auf die Nerven. Sie sammelte kaum welche. Sie hatte fünf Punkte bekommen, weil sie einen auf den Rücken liegenden Käfer umgedreht hatte. Hauptsächlich, weil sie sehen wollte, wie detailliert er gemacht war. Für das Spiel hatte sie ihre Brille zurückbekommen. Die Grafiken ihrer eigenen Spiele waren besser, aber sie mochte Käfer. Jackie hatte sie in der Gruppe verloren. Potz tötete alles, was er sah, und hatte nur Minuspunkte: Häschen, Eichhörnchen, flauschige Entchen. Er hetzte in schnellem Sprint schon zu Beginn an ihr vorbei und schnitt einem Murmeltier die Kehle durch, dann sah sie ihn lange nicht mehr, nur seinen über ihm in den Himmel schwebenden Punktestand konnte sie schon aus weiter Ferne erkennen: Die Anzeige war rot statt grün. Er machte das wohl mit Absicht. Einige bauten an einer Hütte und sangen dabei Lieder, deren Text Emma im Inventar ihres Avatars fand, aber sie hatte keine Lust zu singen. Einige schnitzten Lanzen – sie würden den Blutrünstigen Säbelzahnbären finden. Das war der Quest, an dem man sich zu beteiligen hatte. »Pilze sammeln« war eine Option im Questverzeichnis, also zog Emma los, streifte über Lichtungen, die weit idyllischer waren als Untermürbwies. Was hatte sie sich eingebrockt? Ein albernes Spiel mit Teambuildingfunktion für Schüler war das, sonst nichts.
Als ihre Eltern das erste Virtuali kauften, hatte sie auch ein Spiel mit einem Wald. Die Wölfe von Pripyat. Es basierte auf einem Märchen von Tante Brause, vor deren Sendung im Aufrichtigen Äther sie als Kind oft abgesetzt worden war, und mit den Wölfen konnte man sprechen. Als Kind glaubte sie, dass Wölfe die besseren Menschen wären, bis sie erfuhr, dass echte Wölfe keine Sprache hatten. Sie streichelte die Samen von Pusteblumen, beobachtete, wohin die Vögel flogen, und hielt erst an, als sie hinter sich ein Donnergrollen hörte. Nein, kein Donner. Ein Knurren, ein tiefes, kehliges Knurren aus einem Resonanzraum wie ein steinerner Saal. Sie blieb stehen. Sie erwog, umzudrehen. Bekam man Minuspunkte, wenn man starb? Langsam drehte sie den Kopf ein Stück in die Richtung, aus der der vermeintliche Donner auf sie zugerollt war, aber ihr Blick blieb zwischen Farnen hängen, hinter denen sie Potz’ Gesicht erkannte. Grinsend und blutverschmiert. Sie fühlte einen unangenehmen, warmen Hauch im Genick. Potz legte den Finger auf seine Lippen, zog ein Messer hervor und sprang mit einem großen Satz an ihr vorbei, mitten hinein in das Ungetüm.
Als sie den Blick nach hinten wandte, war der Bauch des Tieres schon aufgeschlitzt und Potz zog mit langen, schwungvollen Bewegungen laut trällernd die Därme des brüllenden Tieres heraus: »There’s no -piep- like horse -piep- to send your -piep- piep- into -piep-!« Blut und Kot spritzten in Emmas Gesicht. Sie kannte das Lied. Warum das letzte Wort »shock« ausgepiept war, wusste sie nicht, mit vier Piep hatte sie es noch nie gehört. Noch bevor das tosende Geschrei des virtuellen Bären endete, wurden sie zurückgeworfen in ihre Vibeboxen. Der Gruppenleiter hatte das Spiel abgebrochen. Weder war vorgesehen, dass der Bär von einem einzelnen Teilnehmer getötet wurde, noch dass er von einem einzelnen Teilnehmer getötet werden konnte. Das sollte nicht möglich sein, schnaubte er Potz an, der losprustete, lachend nach Luft schnappte und sagte: »Ich war doch nicht allein. Emmchen hier hat mir geholfen. Ist es nicht so?« Emma nickte langsam. Der Gruppenleiter warf ihr einen skeptischen Blick zu. »Als Köder«, sagte sie leise und einige in der Gruppe grölten, johlten und applaudierten, währen Potz sich verneigte und kaum zu kichern aufhören konnte. Was hätte sie auch sonst sagen sollen?
Jackie hatte etwas Rührendes. Gerade jetzt, als sie aus den Vibes gestiegen waren. Als hätte sie im Vibe etwas Entsetzliches erlebt, dabei war doch sie, Emma, unfreiwillig zum Köder geworden. Jackie weckte in Emma das Bedürfnis, sie zu beschützen, und das ließ Emma begreifen, dass Potz zumindest Jackie gewiss nichts Böses wollte. Sie hätte nicht anders gekonnt, als Jackie zu folgen. Gleich nach dem Seminar darüber, wie wichtig Bildung war, und wie wichtig es war, Bildung sorgsam auszuwählen, denn nicht jedes Wissen in der Welt verbessert diese. Das wussten sie doch alle, dachte sie. Das wussten sie schon aus der Schule. »Was, wenn ich nicht weiß, woher die Information kommt? Ich frage für einen Freund«, sagte Richard. Sie waren alle unglaublich höflich, fragten immer nur für Freunde. Fast hätte man glauben können, sie seien in einem Unterstützungswürdigenlager.
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