Ich selbst weiß nichts weiter über ihn oder seine Geschichte, ja, ich wüsste nicht einmal so viel, wenn nicht der Büffelmantel hier in einer Vitrine hinge, als wäre er in eine Telefonzelle getreten, um anzurufen. Und selbst das, was ich weiß, fühlt sich unzulänglich an, obwohl es passt wie ein Schlüssel ins Schloss.
Es wirkt wie eine Geschichte, die nicht für mich bestimmt ist, zum Teil, weil die Gegenstände, die sie erzählen, nur sparsam und nur am Rande ausgestellt sind. Und auch nicht im Hauptmuseum, sondern in einem Eingangsgebäude, in einer Art Lobby vor den Wechselausstellungen, am anderen Ende des Museumscafés. Der Mantel in seiner Vitrine hat nur eine kleine Fußnote erhalten, ordentlich gedruckt und sauber formatiert. Die Information ist noch kürzer als die Geschichte, die ich hier erzähle, und nur auf Isländisch, sodass sie niemand von außerhalb Islands lesen könnte, der diesen Mann oder den verlorenen Jungen lange genug gekannt hatte, bis seine Schultern diesen Mantel ausfüllten. Ich nehme an, dass auch der Text etwas Kurzes und Gemurmeltes ausdrückt.
Das ist die Geschichte, die mir erzählt wurde, obwohl ich eigentlich auf der Suche nach einem Pfarrer war, als mir der Mantel und die Schuhe dieses Mannes gezeigt worden waren. Das ist die Geschichte, die ich erfuhr, nachdem ich wiederholt nach einem anderen Boot gefragt hatte: dem alten Fischerboot, das auf dem Rasen des Museums verrottete, weil nie genug Geld da war, um es instand zu halten. Inzwischen war es zu gefährlich, es zu besteigen, obwohl jeder, der hier aufgewachsen war, als Kind über seine Planken und die Reling geklettert war.
Ich bewahre dieses verirrte Kleinod auf, wie man es mit jeder kostbaren Sache tut. Ich bin so geistesgegenwärtig, diese Geschichte aufzuzeichnen, wegen der ich nicht gekommen war und nach der ich nicht hätte fragen können. Ich erkannte den Glücksfall sofort. Das ist die Geschichte, die ich erst zu hören bekam, nachdem ich die große Führung mitgemacht hatte, nachdem man mich eingeladen hatte, mich im Museumscafé auszuruhen, nachdem ich glaubte, meine Fragen wären beantwortet, nachdem ich Kaffee und Kuchen bekommen hatte, bis ich nicht mehr konnte.
GALERIE 1
ANATOMIE EINES MUSEUMS
Isländisches Phallologisches Museum
(Hiđ Íslenzka Ređasafn)
SEIT DEN ALTEN ZEITEN hat sich vieles verändert. Der Walfang ist erst seit Kurzem wieder legal – die Branche ist derart geschrumpft, dass heute alle verbliebenen Walfangschiffe im Besitz einer einzigen Familie sind –, aber auch wenn es erhältlich ist, so sind die Leute doch nicht mehr an den Verzehr von Walfleisch gewöhnt. Früher war es im Überfluss vorhanden. Die Walfänger verschenkten Stücke des Leviathans; man brauchte nur zur Walfangstation zu gehen und eine Tüte mitzubringen, in die man es hineinpacken konnte. Meistens waren es Plastik-Einkaufstüten. Aber wenn man ein paar Müllsäcke zusammenkramte, wenn man ein paar gute Freunde hatte, wenn man vorher anrief und der Wal, den sie gefangen hatten, die richtige Art von Wal war, wenn man seine eigene Axt mitbrachte, dann reservierten die Walfänger einem wohl auch einen Teil des Tieres, den sie nicht verwenden konnten. Und so konnte es passieren, dass man mit seiner Tochter den Penis des Wals abtrennte – oder besser: nur die Spitze, das Drittel, das aus dem Körper ragt, wenn sich im Tod die Muskeln entspannen und das Organ ins Gleichgewicht kommt – und das glitschige, schwere Ding auf den Rücksitz seines Autos hievte.
DER ERSTE ISLÄNDER, den ich kennenlernte, hieß Garðar. Garðar war groß und blond und arbeitete mit meiner Schwester zusammen in einem staatlichen Labor in Kalifornien. Er bot sich an, ihr beim Aufhängen der Schränke in ihrer neuen Küche zu helfen, und während wir auf dem Betonboden saßen und Einbaupläne entzifferten, gestand ich, dass ich rein gar nichts über Island wusste. Ich fragte Garðar, was ich seiner Meinung nach wissen sollte.
Im Nachhinein denke ich, er hätte mir erzählen können, dass die Insel den Polarkreis überspannt, dass sie eine Gesamtbevölkerung von 330.000 Menschen und die höchste Alphabetisierungsrate der Welt sowie eine eigene Regierungsbehörde hat, die nur dafür zuständig ist, Fremdwörter ins Isländische umzuwandeln (Handys sind nach einem archaischen Wort für ein junges Schaf benannt, weil ihr Summen an ein Blöken erinnert). Er hätte auch die Sängerin Björk oder die Band Sigur Rós nennen und es dabei belassen können. Er hätte auch seinen Namensvetter, den schwedischen Wikinger Garðarr Svavarsson, erwähnen können und dass Island eine Zeit lang sogar nach diesem Garðar benannt war. Doch er erzählte nichts über die Jahre, in denen Island Garðarshólmi war. Er erwähnte das alles nicht. Ohne weitere Einleitung berichtete er mir über Island nur eines: »Wir haben ein Penismuseum.«
»Wirklich?«, fragte ich.
»Ja. Das einzige auf der ganzen Welt.«
ICH LIEBE BERECHTIGTE SUPERLATIVE. Das Beste oder Erste oder Älteste ist schön und gut, aber die älteste durchgehend betriebene Eisdiele der Welt zum Beispiel, die größte Streichholzbriefsammlung Europas , das zweitälteste Museum westlich des Mississippi – wie viel charmanter sind diese Behauptungen durch ihre gemäßigte Prahlerei, ihre eigentümliche Besonderheit? Und dennoch entziehen sie sich einem irgendwie, trotz ihrer Präzision, und man weiß nicht, auf welcher Grundlage sie beruhen. Sollen sie uns glauben machen, dass ihnen eine Bescheidenheit zugrunde liegt, die um die Grenzen selbst der gewissenhaftesten Forschung weiß? Schließlich kann man schlechterdings nicht genau sagen, was alles in der Welt existiert, und gebietet es nicht die Ehre, nicht mehr zu behaupten, als man beweisen kann? Oder wissen die Urheber der Bezeichnungen ganz genau, dass sich die umfassendste Streichholzbriefsammlung der Welt in Uruguay befindet, und wollen es nur nicht verraten?
Im besten Fall klingen diese Titel wie Nischen, die so lange eingedampft und geschmälert werden, bis es keine mögliche Konkurrenz mehr gibt. Sieg durch Ausschluss! Ruhm durch Zermürbung! Und doch verkünden sie ihre Botschaft so triumphierend, als wäre es eine höchst begehrte Auszeichnung, der regionale, selbst ernannte Beinahe-Vizemeister zu sein.
Nach eigener Einschätzung ist das »Isländische Phallologische Museum wahrscheinlich das einzige Museum der Welt, das eine Sammlung von Phalli aller in einem bestimmten Land vorkommenden Arten von Säugetieren enthält«.
Falls irgendeine andere Institution um diese Ehre konkurriert, wird es schwer sein, ein kleines Inselland zu schlagen, dessen geografische Lage die Artenvielfalt erheblich einschränkt. Wenn der Sammelwahn tatsächlich nur auf die einheimischen Landsäugetiere beschränkt wäre, hätte Island nach dem Einfangen eines einzigen Polarfuchses aufhören können.
Doch warum sollte man sich nur auf Säugetiere beschränken, fragt man sich. Biologisch wäre das ganz und gar unlogisch. Fische sind, was Phalli angeht, eine durchaus lohnende Beute, wie das Isländische Phallologische Museum anhand zweier Exemplare von Seebarschen beweist. Es gibt Libellen mit Phallus. Und zwar besitzen nur drei Prozent der Vogelarten irgendeine Art von Phallus, aber man kann sie schwerlich vernachlässigen angesichts der Tatsache, dass der Penis der Ente ein korkenzieherartiges Tentakelorgan ist, das sich zu einer Länge entfaltet, die der des gesamten Körpers der Ente entspricht.
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