In China sind über 30 Arten von Qi definiert worden. Wir erwähnen hier nur einige: Das Xiantianzhi Qi stellt die vorgeburtliche, vorembryonale Energie dar und wird in den Nieren gelagert. Das vorembryonale Qi, das das Baby von seinen Eltern erhält, wird im Laufe des Lebens langsam verbraucht und wird ergänzt vom Houtianzhi Qi, dem nachembryonalen oder erworbenen Qi. Dieses erworbene Qi setzt sich zusammen aus dem Nahrungs-Qi (Zufuhr von Energie durch Nahrung und Getränke) und dem Atmungs- bzw. Luft-Qi. Sauerstoff wird dabei dem Körper zugeführt und verwandelt die Nährstoffe in Energie. Atmung stärkt die Kraft des Qi. So wie der Atem natürlich kommt und geht, so gleicht das Qi dem unaufhörlichen, großen Strom, der umso schneller und kraftvoller fließt, je mehr Wasser er führt. Dieser große Energie-Strom durchdringt und durchströmt den Körper. Er ergießt sich über ein dichtes Netz von Energie-Bahnen, Meridiane genannt (siehe 5. Kapitel), versorgt die Organe, das Gewebe, die Muskeln, das Blut, die Nerven und alle Zellen mit warmer, vitaler Lebenskraft. Das Qi fließt immer dorthin, wo es gebraucht wird – bei Blockaden in den Meridianen oder Gefäßen, bei kranken Organen oder Störungen im Organismus. Es bewegt sich selbst. Das Charakteristische am Qi ist, dass es fließt. Die Verbindung aus vorembryonalem und erworbenem, nachembryonalem Qi bezeichnet man als Zhen Qi, Ursprungs-Qi oder Wahres Qi. Es bildet die Grundlage für die Funktionsfähigkeit des gesamten Organismus. Das Element Qi wird durch zwei weitere Energie-Elemente ergänzt, welche die chinesischen Weisen Jing und Shen bezeichnet haben. Qi, Jing und Shen werden die drei »Schätze« des Menschen genannt. Zusammen bilden sie eine energetische und belebende Einheit.
Jing ist die Essenz, Jing verkörpert das Blut bei der Frau und den Samen beim Mann, das Wesen des Menschen. Es ist die Wurzel, Mutter oder das Bauelement für Qi, das in diesem Vergleich den Stamm oder das Kind darstellt. Es wird ebenfalls in den Nieren gelagert. Jing verkörpert das Blut und formt die äußeren Abläufe der Feinstmaterie im Organismus, wie etwa die Fortpflanzung. Daher heißt es auch Samen-Qi oder Sexual-Energie. Ferner sorgt es für die Verteilung der Nährstoffe und alle körperlichen Aktivitäten. 2
Shen ist das ergänzende Element zu Qi und Jing. Es wird mit »göttlicher Kraft«, »Geist« oder »belebtem Geist« übersetzt, da es die Funktionen des Bewusstseins und des Unbewussten beeinflussen kann. Shen bezeichnet den »aktiv organisierenden, verwandelnden, eine Individualprägung verleihenden und erhaltenden Einfluss«. 3Es repräsentiert das undefinierbare Geheimnis der Spiritualität. Das Schatzkästchen Shen vereint Yin und Yang, den Makro- und Mikrokosmos, das Göttliche und Menschliche in einem.
Ein möglicher Weg, das Qi fließen zu lassen oder es zu aktivieren, ist Qi Gong zu praktizieren. »Gong« heißt Übung, Methode, Wirkung, Arbeit, Disziplin, Handlung, Lehre, Wandlung oder das Aktivieren. Qi Gong ist eine chinesische, bewegungs-orientierte, daoistisch-meditative Übung oder Methode, das Qi zu aktivieren, zum Fließen zu bringen und es zu verwandeln. Sie besteht aus weich fließenden, präzisen Bewegungen, die durch Atmung, Körperentspannung, Vorstellung und Meditation unterstützt werden.
Ursprünglich gab es in China fünf unterschiedliche Schulen, in denen Qi Gong gelehrt und praktiziert wurde: die Daoistische, Buddhistische, Konfuzianische, Medizinische und die Schule des Kampfsports. 4Alle verfolgten dasselbe Ziel: die geistige, seelische und körperliche Verfassung gesund zu erhalten oder gesunden zu lassen. Doch während sich die ersten zwei Schulen auf die innere Stärkung von Geist und Seele konzentrierten, legten die Konfuzianer großen Wert auf die Stärkung der Selbstkontrolle, Aufrichtigkeit, kultivierten Charakter, Ethik und Moral. Das Hauptanliegen der Medizinischen Schule war die Heilung von Krankheiten. Die Kampfsport-Schule förderte die Entwicklung von Körper- und Widerstandskraft. Heute sind die Grenzen fließender. Besonders im Westen wird oft mehreren Neigungen mit einer Qi-Gong-Form entsprochen. Die Daoisten unterschieden ursprünglich zwischen dem Wai Dan und dem Nei Dan Qi Gong. Wai Dan kann mit dem »alchimistischen Elixier des Lebens« 5übersetzt werden, das durch Einnahme eines Wundermittels (die »Pille der Unsterblichkeit«) erreicht werden sollte. Viele Sagen, Geschichten und Lebensläufe von Kaisern und anderen Persönlichkeiten drehen sich um die Suche und dem Verlangen nach Unsterblichkeit mit Hilfe dieser Wunderpille. Einige starben jedoch durch ihre Gier auf ewiges Leben nach der Einnahme von giftigem Quecksilber. (Dantian, das Sammelbecken von Qi, heißt übersetzt: Zinnoberfeld, eine Quecksilber-Verbindung, mit der die alten Weisen Unsterblichkeit in Verbindung brachten). Im Wai Dan Qi Gong wurde die Einnahme von äußeren Mitteln (wie Pulver oder Pillen) verbunden mit Atemübungen oder sehr sparsamen Bewegungsübungen.
Nei Dan, auch inneres Elixier genannt, weil die Menschen sich ein langes Leben durch innere Übungen versprachen, ist die Grundlage aller heutigen Qi-Gong-Übungen. Die übende Person richtet ihr Bewusstsein auf die Drei Dantians (siehe 5. Kapitel), den Kleinen und Großen Kreislauf. Dies ist auch im Fliegenden Kranich Qi Gong der Fall. Dabei wird durch bestimmte Übungen das Qi gestärkt, ergänzt und, mit Hilfe der Vorstellungskraft, durch den Körper geleitet.
Im heutigen China wird Qi Gong vorwiegend als Heilmethode in Krankenhäusern empfohlen und praktiziert oder von Laien privat unterrichtet. Der spirituelle, religiöse Bezug wird offiziell nicht mehr erwähnt.
2. Kapitel
Kurzer geschichtlicher Überblick
Die Vergangenheit hilft uns ,
die Gegenwart zu spüren
und die Augen zu öffnen
für die Zukunft
– Petra Hinterthür –
Schriftliche Aufzeichnungen über die Geschichte des Qi Gong sind nur fragmentarisch vorhanden. Traditionell haben die chinesischen »Kundigen« ihr Wissen nur mündlich, von Meister zu Meister oder vom Meister zum Schüler, weitergegeben. Das chinesische Klassiker-Medizinbuch Huangdi Neijing Suwen oder nur Suwen (3./2. Jh. v. Chr.) gilt als das älteste schriftliche Dokument, in dem es einen Bericht über Qi Gong gibt. Es soll während der Regentschaft des legendären Gelben Kaisers Huangdi (2697 – 2597 v. Chr.) geschrieben worden sein. Im Kapitel Shuwen Shanggutian Zhenlun 6steht: »Es gibt Menschen auf der Erde, die kennen das Geheimnis von Yin und Yang, atmen kosmische Luft und können sich auf das Innere konzentrieren. Ihr Körper und Geist können eins werden. Sie können so lange leben, bis sich Himmel und Erde ändern.«
Das Yijing (I Ging – Buch der Wandlungen) ist ein chinesisches Weisheits- oder Orakelbuch aus der Zeit von 2400 v. Chr. und basiert auf der Vorstellung der Interaktion von Yin und Yang, Naturkräfte werden dargestellt durch die Acht Trigramme, aus denen man 64 Hexagramme kombinieren kann. Diese Hexagramme wurden von Weisen der Inneren Alchemie übernommen, die durch sie verschiedene innere Prozesse (Wandlungen) versinnbildlichten. 7Die Acht Trigramme werden auch heute noch zur Beschreibung der Qi-Bewegung im Körper angewandt. In der Zhanguo-Periode (Zeit der Kämpfenden Staaten 476 – 221 v. Chr.) hatten die Chinesen schon reichere Erfahrungen mit der Qi-Gong-Lehre und Qi-geführten Atemübungen. Bei Ausgrabungen wurden 12 Jadesäulen aus dieser Zeit gefunden, auf denen steht: »Wenn man tief einatmet, wird sich Qi vermehren. Wenn man Qi in sich führen und nach Belieben leiten kann, wird es ruhig und kraftvoll. Beim Ausatmen steigt es nach oben bis zum Gipfel. Es wird Kontakt aufnehmen zum Himmels- und Erdgeheimnis. Wenn man nach diesem Gesetz übt, wird man lange leben.« 8
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