Diesmal haben wir die alphabetische Namensfolge der Autorinnen gewählt – als Ausdruck von Veränderung. Einige Jahre nach Schreiben des Buches fing Petra Hinterthür an, den Kranich zu unterrichten. Ihre Kurse sind beliebt, was mich sehr freut, denn ich schätze den Fliegenden Kranich als ganzheitliche Übung nach wie vor.
Innerliches Lauschen, Spüren, meditatives Forschen haben mich im Laufe der Jahre aus der Form des Qi Gong hinausgeführt. Von dem Geschriebenen muss ich nichts zurücknehmen. Es ist wohl wahr so, vor allem, was das Qi Gong betrifft, und doch deutete das Geschriebene auch schon damals auf eine Seinsqualität „unter“ der Form. In den Kranichbewegungen wurde mir die Stille, das Sein sichtbar, spürbar. Aus Asien zurückkehrend nannte ich mein Anliegen: Einfach da sein, lebendig in „Stille und Bewegung“.
Bald merkte ich, dass das auch ohne Form leben will. Innerlichkörperlich lauschen, in das, was ist, jeden Tag, egal wo ich bin und was ich gerade tue oder nicht tue, egal auch wie ich gerade gestimmt bin, ohne Bewerten. Darum geht es mir. Im Gewahrsein im Moment, in der alltäglichen Lebensbewegung, findet sich Erstaunliches sowohl was die Wirkung im Immunsystem als auch im „Seelischen“ angeht. Vielleicht so eine Art Alltags-Qi-Gong ohne Namen. Was ich im Buch über äußere Praxis und inneren Weg geschrieben habe gilt auch für die einfachen Bewegungen, Haltungen des Alltags. Immer wieder loslassen, lösen, in das, was ist.
Die Entdeckung ist so unspektakulär-einfach, dass sie leicht zu übersehen ist, jedenfalls ist es mir so gegangen. Ich übte den Kranich morgens oder abends und erlebte Weite, Leichtigkeit, Klarheit, Regenerierung, wie andere Menschen auch. Und dann beobachtete ich, wie sich dieser Zustand von Leichtigkeit, Wachheit, Offenheit … die Worte sind hier nicht entscheidend, auch beispielsweise beim Gehen, Geschirrspülen, Zähneputzen entfaltete, wenn Fühlen, Körperlichkeit und Aufmerksamkeit in Einklang waren und ich mich nicht verkniffen auf irgendein Ergebnis eingeschossen hatte oder mit meinen Gedanken woanders gewesen war. Wenn das sein darf, was ist, ohne Widerstand, so öffnet sich dieser heilsame Zustand.
Ja, es hilft, wieder und wieder kurz innezuhalten, körperlich-innerlich zu spüren, zu lauschen – wie ist es gerade. Und wenn Widerstand, Ungeduld, Angst, Ärger auftauchen, da bleiben und lauschen, schmecken, forschen, wie dieses Ungeduldige, Ängstliche da ist, sich körperlich anfühlt unter den Worten. Wir können loslassen, entspannen, in das, was da in uns lebendig ist, leben will. Wir lösen es nicht einfach auf.
Die kleinen Fragen helfen, in die Tiefe zu gehen und wach zu bleiben. Sie wollen keine gedachte Antwort. Sie wollen einfach öffnen und helfen, dazubleiben mit dem, was ist. In diesem Dableiben entsteht liebevolles Mit-Gefühl mit uns selbst. Das nährt, fühlt sich wohl an im Körper und erleichtert. Energie fließt. (Ein paar Quellen habe ich hinten im biographischen Teil angegeben.)
Ich kann mir täglich eine Zeit reservieren ohne Programm von außen, eine leere Zeit, in der ich sitze, ins Lebendige lausche, da bin. … Wie weiß der Körper zu atmen? Zu sehen? Zu sitzen? Zu gehen? … Was ist es, das da atmet, denkt, fühlt? Ein Gähnen, ein Strecken. Der Körper weiß zu leben. Momente des Seins, der Einsicht … Staunen … alles geschieht von selbst … „interwirkt“ … geschieht einfach. Dieses Sosein kann eine so intensive Qualität haben, dass es die Frage nach dem Sinn oder des Wofür hinter sich lässt. Das Lebendigsein spüren, wie es ist. Einzigartig, wundersam in jedem Moment. Wir müssen nicht wissen, was das ist. Wir erleben das.
Auch finde ich es hilfreich, die Aufmerksamkeit durch den Körper wandern zu lassen, wie eine sanfte innerliche Berührung, und dann, wenn wir bereit dazu sind, jegliche Aktivität der Aufmerksamkeit loszulassen. Da sein, sitzend, liegend oder stehend – Gewahr-Sein ist da von selbst. Auch wenn wir nichts tun müssen, da ist ja nicht einfach nichts. Wir sind ja da, nur anders als wir gedacht oder uns vor-gestellt haben, ein kräftiges Gefühl von Gegenwärtigkeit. Das ist kein Gedanke. Selbst in Zuständen von Verwirrung, Frustration oder Verliebtheit ist dieses einfach Gegenwärtige spürbar, wenn wir innehalten.
Ich sehe und habe es auch selbst erlebt, dass der Kranich als Form für viele Menschen eine exzellente Hilfe sein kann, wenn in der Hektik des Alltags diese tiefgründige Einfachheit wie verschollen ist. Hier kann ich die Entdeckung dieses Einfachen nur andeuten, das sich mir aufgetan hat. Darüber zu schweigen fällt mir schwer, wenn es uns doch so erfreuen kann … und die Kreise des Kranichs nicht stört.
Astrid Schillings, 2005
von Petra Hinterthür
1. Kapitel
Was ist Qi Gong?
Der Geist des Tales stirbt nicht ,
denn er ist die Kraft des Weiblichen
und die Wurzel von Himmel und Erde .
– Laozi – Daodejing – 6. Vers –
Qi Gong ist eine Kunst, die jeder erlernen kann, völlig unabhängig von Herkunft, Wissen und Alter. Sie kann im Stehen, Sitzen oder Liegen ausgeführt werden. Gesunden dient sie zur Vorbeugung von Krankheiten und als Möglichkeit, das Qi durch Meditation in eine höhere Energie zu verwandeln, den »Geist zu leeren« und zu den eigenen Wurzeln zurückzufinden. Bei Kranken wird sie als Heilmethode angewandt. Systematische, regelmäßige Qi-Gong-Übungen stärken das Qi, fördern die Gesundwerdung, schaffen allgemeines Wohlbefinden, Leichtigkeit, Heiterkeit, Weite, Entspannung, Jugend, Schönheit und wirken sich positiv auf Geist, Nervensystem und den gesamten Organismus aus.
Fast jede Krankheit kann durch Qi Gong geheilt oder zumindest gelindert werden. Wichtig ist jedoch, dass der Mensch erst einmal eine Eigenverantwortung für seine Krankheit übernimmt und sie als Chance für eine Verbesserung seiner Lebenshaltung und -umstände ansieht. Neuere Erfahrungen in China haben gezeigt, dass sogar viele Krebskranke geheilt werden konnten.
Stellen wir uns die Frage nach der Bedeutung des Qi, so können wir die Interpretation des 6. Verses von Laozi’s Daodejing anführen: »Das »Tal« bedeutet der leere Raum zwischen den Bergwänden. »Tal« heißt es, weil es kein Dasein hat, »Geist« heißt es, weil es darum doch »nicht nicht« ist. Man könnte beinahe übersetzen: Geist und Materie in ihrer Einheit sind ewig.« 1
Die Antwort auf die Frage nach der Bedeutung des Qi könnte ähnlich ausfallen: Es ist nicht sichtbar und doch ist es »nicht nicht«, d. h. es ist vorhanden und wohnt in jedem lebenden Wesen, sei es Mensch, Tier oder Pflanze, in der Natur oder im Kosmos. Alle Dinge sind beseelt von Qi. Es strömt durch den Körper und ist lebensnotwendig für den ganzen Organismus. Es ist nicht greifbar, und doch ist seine Auswirkung in körperlicher, geistiger und seelischer Hinsicht spürbar. Eine der Übersetzungen des chinesischen Wortes Qi ist Luft, Dampf oder Atem. Es entspricht dem griechischen Pneuma oder dem Sanskrit-Wort Prana. Qi kann aber auch mit Lebens-Energie, Lebens-, Ursprungs- oder Vital-Kraft, Lebens-Essenz, feinstofflicher Fluss, Körper-Elektrizität, Wolken, Dampf oder rhythmischer Vitalität übersetzt werden.
Die chinesischen Weisen glaubten, dass Qi die Grundlage allen Wachstums und aller Entwicklung sei. Im Buch der Leiden aus der Zhou Dynastie (1122 – 255 v. Chr.) wird gesagt, dass »Leben entsteht, wenn Qi vorhanden ist, sich Formen bilden, wenn Qi sich entfaltet, und Wachstum beginnt, wenn sich Qi bewegt.« Im chinesischen Volksmund sagt man, dass ein Mensch gesund ist, wenn er ausreichend mit Qi versorgt ist. Mangelt es ihm an Qi, wird er kränkelnd und negativ in seiner Ausstrahlung. Wenn kein Qi, keine Lebens-Kraft, mehr vorhanden ist, stirbt er.
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