§ 4. ( Unermesslichkeit .) Jeder bestimmte Abstand ist eine bestimmte Besonderung des Raumes, und jede Vorstellung von einem bestimmten Abstand oder Räume ist ein einfacher Zustand dieser Vorstellung. In Folge der Gewohnheit, zu messen, befestigen sich in der Seele gewisse feste Längen, wie die des Zolls, des Fusses, der Elle, der Ruthe, der Meile, des Erddurchmessers u.s.w.; sie sind so viele einzelne aus dem Räume gebildete Vorstellungen. Sind solche Längen oder Maasse einem Menschen geläufig geworden, so kann er sie in Gedanken, so oft er will, wiederholen, ohne dass er die Vorstellung eines Körpers oder von sonst Etwas damit verbindet, und er kann sich die Vorstellungen von lang, viereckig, von dem Würfel, vom Fuss, von der Elle und Ruthe sowohl unter den Körpern der Welt wie noch darüber hinaus bilden, und er kann durch deren Aneinanderfügung seine Vorstellung des Raumes so weit vergrössern als es ihm beliebt. Dieses Vermögen, die Vorstellung irgend eines Abstandes zu wiederholen oder zu verdoppeln und einer frühem, so oft man will, hinzuzufügen, ohne dass man zu einem Halt oder einer Grenze gelangen kann, ist das, was uns die Vorstellung der Unermesslichkeit giebt.
§ 5. ( Gestalt .) Eine andere Besonderung dieser Vorstellung besteht lediglich in dem Verhältniss, welches die Theile der Enden einer Ausdehnung oder eines umschriebenen Raumes zu einander haben. Bei fühlbaren Körpern lehrt dies das Gefühl, so weit deren Enden in das Auge entnimmt sie sowohl von Körpern, wie von Farben, deren Grenzen in sein Gesichtsfeld fallen; es kann da erkennen, wie der Umriss entweder in geraden Linien endet, die sich in bestimmten Winkeln treffen, oder in krummen Linien, wo kein Winkel sich erkennen lässt. Indem man diese in ihrem Verhältniss zu einander in allen Theilen des Umrisses eines Körpers oder Raumes betrachtet, erlangt man die Vorstellung der Gestalt , welche der Seele sich in unendlicher Mannichfaltigkeit bietet. Denn neben der grossen Zahl verschiedener Gestalten, die in den zusammenhängenden Massen des Stoffes wirklich bestehen, bleibt der Vorrath, welchen die Seele durch Veränderung der Vorstellung des Raumes und durch Bildung neuer Gestalten vermittelst Wiederholung der eigenen Vorstellungen und der beliebigen Verbindung derselben besitzt, unerschöpflich, und sie kann damit die Gestalten in das Endlose vermehren.
§ 6. ( Gestalt .) Denn die Seele vermag die Vorstellung einer Länge geradeaus mit einer andern von derselben Richtung zu verbinden und so jene zu verdoppeln; oder sie kann auch beide in einer beliebigen Neigung verbinden und so irgend einen Winkel bilden; ebenso kann sie eine Linie verkürzen, die Hälfte, das Viertel oder welchen andern Theil davon nehmen, ohne mit solcher Theilung zu Ende zu kommen; so kann sie Winkel von jeder beliebigen Grösse bilden und ebenso deren Seiten verlängern. Verbindet sie nun diese wieder mit andern Linien von verschiedener Länge und verschiedenen Winkeln, bis der Raum ganz eingeschlossen ist, so erhellt, dass sie Gestalten in Form und Inhalt ohne Ende machen kann, was Alles einfache Zustände des Raumes sind. Dasselbe kann mit krummen Linien geschehen oder mit krummen und geraden unter einander, und was mit Linien geschehen kann, ist auch mit Flächen ausführbar; dies führt zu einer neuen endlosen Mannichfaltigkeit von Gestalten, welche die Seele bilden kann, und wodurch sie die einfachen Zustände des Raumes vermehren kann.
§ 7. ( Ort .) Eine andere unter dieser Klasse und zu diesem Stamme gehörende Vorstellung ist die des Ortes . So wie man in dem blossen Raum die Beziehung der Entfernung zweier Körper oder Punkte betrachtet, so betrachtet man bei der Vorstellung des Ortes die Beziehung der Entfernung eines Dinges von einem oder mehreren Punkten, welche Punkte man als dieselbe Entfernung von einander einhaltend und somit in Ruhe annimmt. Findet man nämlich heute Etwas in gleicher Entfernung wie gestern von zwei oder mehr Punkten, die ihren Abstand von einander seitdem nicht geändert haben, so sagt man dann in Vergleich mit jenen, dass es seinen Ort behalten habe; hat es dagegen merkbar seinen Abstand von einem dieser Punkte geändert, so sagt man, es habe seinen Ort verändert. Im gewöhnlichen Leben und Auffassen des Orts beachtet man nicht immer genau den Abstand von solchen bestimmten Punkten, sondern man richtet sich nur nach den grossern Theilen sichtbarer Gegenstände; auf diese wird der Gegenstand bezogen, so weit man Anlass hat, seinen Abstand davon zu beachten.
§ 8. So sagt man von den Schach-Figuren, wenn sie noch auf denselben Vierecken des Schachbretts stehen, wo man sie verlassen hat, dass sie noch alle auf demselben Platze, oder unverändert stehen, wenn auch vielleicht inmittelst das Schachbrett in ein anderes Zimmer getragen worden. Ist, weil man sie blos mit dem Schachbrett vergleicht, wo sie noch dieselbe Entfernung inne haben. Ebenso sagt man von dem Schachbrett, dass es sich noch an demselben Orte befinde, wenn es an derselben Stelle der Kajüte steht, obgleich das Schiff währenddem fortwährend weitergesegelt ist. Ebenso sagt man von einem Schiff, es habe seinen Ort nicht verändert, wenn es seinen Abstand zu der benachbarten Küste beibehalten hat, obgleich die Erde sich vielleicht rund umgedreht hat. So haben die Schachfiguren, das Brett und das Schiff jedes seinen Ort rücksichtlich entfernterer Gegenstände, die unter einander den gleichen Abstand behalten haben, geändert. Allein da der Abstand von den einzelnen Vierecken des Schachbretts den Ort der Schachfiguren und der Abstand von festen Punkten der Kajüte (die ich als Beispiel benutzte) den Ort des Schachbretts bestimmt, und da man nach festen Theilen der Erde den Ort des Schiffes bestimmt, so kann man in dieser Beziehung sagen, dass diese Dinge an demselben Orte geblieben sind, obgleich ihr Abstand von andern Gegenständen, die aber nicht beachtet werden, sich geändert hat, und> sie deshalb unzweifelhaft ihren Ort gewechselt haben; was man auch anerkennt, wenn man Anlass erhält, sie damit zu vergleichen.
§ 9. Diese Bestimmung des Abstandes, die man Ort nennt, wird blos zu dem Zweck gemacht, um dadurch die besondere Stellung von Dingen angäben zu können, wo es auf eine solche ankommt; deshalb beurtheilt und bestimmt man diesen Ort durch Beziehung auf die Gegenstände, die hierzu am besten sich eignen, ohne Rücksicht auf andere, die für andere Zwecke sich besser dazu eignen würden. So hat die Angabe des Ortes der Schachfiguren nur Bedeutung für das Schachbrett, und deshalb würde dieser Zweck verfehlt werden, wenn man den Ort nach andern Dingen bemessen wollte. Steckt man dagegen die Schachfiguren in einen Beutel und fragt man dann, wo der schwarze König sei, so würde es unpassend sein, den Ort nach dem Schachbrett, statt nach den Theilen des Zimmers zu bestimmen, da die Bezeichnung des jetzigen Ortes einen andern Zweck hat, als wenn der König auf dem Schachbrett beim Spiele steht; deshalb muss er dann durch andere Körper bestimmt werden. Ebenso würde, wenn Jemand fragte, wo die Verse stehen, welche die Erzählung von Nisus und Euryalus enthalten, es eine sehr verkehrte Antwort sein, wenn man sagte, sie wären da oder dort auf der Erde oder in Bodley's Buchhandlung; vielmehr würde die richtige Bezeichnung des Ortes nur durch die Theile von Virgil's Werke geschehen, und die passende Antwort wäre, dass diese Verse sich in der Mitte des neunten Buchs der Aeneide befinden, und dass sie da sich immer an demselben Orte befunden haben, seitdem Virgil gedruckt worden. Dies bleibt wahr, obgleich das Buch tausendfach seinen Ort gewechselt hat, da man hier unter dem Orte nur den Theil des diese Geschichte enthaltenden Buches meint, um zu wissen, wo man sie nöthigenfalls zu suchen hat, und da man den Ort nur dazu benutzen will.
§ 10. ( Ort .) Man wird leicht anerkennen, dass unsere Vorstellung von dem Orte nur diese erwähnte bezügliche Stellung eines Dinges ist, wenn man bedenkt, dass man sich für das Weltall keinen Ort vorstellen kann; obgleich es von jedem Theile desselben möglich ist. Es fehlt bei dem Weltall die Vorstellung irgend eines festen, bestimmten und besonders Dinges, auf welches der Abstand desselben in irgend einer Weise bezogen werden könnte; Alles ausser ihm ist ein einförmig ausgedehnter Raum, in welchem die Seele keinen Unterschied und kein Merkzeichen finden kann. Wenn man sagt, die Welt sei irgendwo, so sagt dies nicht mehr, als dass sie besteht; diese Redensart, die von dem Orte entlehnt wird, bezeichnet nur deren Dasein, aber keine Ortsstellung. Sollte Jemand klar und deutlich in seiner Seele den Ort der Welt sich vorstellen können, so müsste er auch angeben können, ob sie in diesem gleichförmigen, leeren und unendlichen Räume still steht oder sich bewegt. Allerdings hat das Wort: Ort mitunter einen verworrenen Sinn und bezeichnet oft nur den von einer Sache eingenommenen Raum; dann ist allerdings die Welt in einem solchen Orte. Die Vorstellung des Ortes wird dann ebenso wie die des Raumes erlangt (indem jene nur eine besonders eingeschränkte Auffassung von dieser ist), d.h. durch unser Sehen und Fühlen; jedes von beiden giebt der Seele die Vorstellungen von Ausdehnung und Abstand.
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