§ 3. ( Aufmerksamkeit, Wiederholung, Schmerz und Lust befestigen die Vorstellungen .) Aufmerksamkeit und Wiederholung dienen sehr zur Befestigung der Vorstellungen in dem Gedächtnis; den tiefsten und dauerndsten Eindruck machen jedoch von Natur die mit Schmerz oder Lust verbundenen Vorstellungen. Da es das Hauptgeschäft der Sinne ist, uns von dem dem Körper Schädlichen oder Nützlichen Kenntniss zu geben, so ist es (wie ich gezeigt habe) ein weise Anordnung, dass manche Vorstellungen mit Schmerz begleitet sind; er ersetzt bei den Kindern die Betrachtung und das Nachdenken und wirkt bei Erwachsenen schneller als Betrachtung, lässt Jung und Alt schmerzerregende Gegenstände mit der Eile vermeiden, die ihre eigene Erhaltung erfordert, und befestigt in dem Gedächtniss Beider die Vorsicht für die Zukunft.
§ 4. ( Die Vorstellungen erbleichen, in dem Gedächtniss .) In Betreff der Dauer der dem Gedächtniss eingeprägten Vorstellungen zeigt sich, dass manche der Seele nur durch einen, bloss die Sinne erregenden Gegenstand, und zwar nur einmal zugeführt worden sind; andere haben sich den Sinnen öfters dargeboten, aber sind wenig beachtet worden, entweder aus Leichtsinn bei den Kindern, oder wegen anderweiter Beschäftigung, wie z.B. bei Menschen, die nur auf einen Gegenstand ihren Sinn gerichtet haben, der Eindruck sich nicht tief festsetzt. Auch da, wo die Eindrücke sorgfältig aufgenommen und wiederholt worden sind, ist bei Manchen doch das Gedächtniss entweder in Folge körperlicher Zustande oder eines Mangels im Gedächtniss selbst schwach. In all diesen Fällen erbleichen die Vorstellungen in der Seele schnell und verschwinden oft ganz aus dem Verstande, ohne mehr Spuren und Zeichen von sich, wie die über Kornfelder hinfliegenden Wolkenschatten, zu hinter lassen; die Seele ist dann so leer an ihnen, als hätte sie dieselben nie gehabt.
§ 5. So gehen bei Kindern Vorstellungen aus dem Anfange ihres Wahrnehmens (bei Manchen mit Schmerz oder Lust verknüpften vielleicht schon aus der Zeit vor ihrer Geburt, bei andern aus ihrer frühesten Kindheit), wenn sie nicht später wiederholt werden, gänzlich verloren und lassen keine Spur von sich zurück. Man kann dies bei Personen beobachten, die ihr Gesicht in früher Jugend verloren haben; die Vorstellungen der Farben, die sie nur leichthin aufgenommen hatten, und die nicht wiederholt werden konnten, sind bei ihnen ganz verschwunden; sie haben nach einigen Jahren gleich den Blind-Gebornen keinen Begriff noch Erinnerung von Farben mehr. Bei manchem Menschen ist allerdings das Gedächtniss wunderbar stark; allein dennoch scheint ein allgemeines Nachlassen unserer Vorstellungen, selbst der am tiefsten eingeprägten und selbst bei Menschen von gutem Gedächtniss, Statt zu finden. Wenn daher die Vorstellungen nicht mitunter dadurch erneuert werden, dass die Sinne oder die Selbstwahrnehmung auf die sie zuerst veranlassenden Gegenstände gerichtet werden, so verwischen sich allmählich die Eindrücke, und es bleibt zuletzt nichts übrig. So sterben die Vorstellungen unserer Jugend, gleich unseren Kindern, oft vor uns, und die Seele gleicht Gräbern, wo, wenn man ihnen nahe tritt, zwar das Erz und der Marmor geblieben ist, aber die Inschrift vor der Zeit verlöscht und die Bildnerei vermodert ist. Die Bilder in unserer Seele sind nur mit schwachen Farben gemalt; wenn sie nicht aufgefrischt werden, erbleichen und verlöschen sie. Ich will hier nicht untersuchen, wie weit die Verfassung unsers Körpers und der Zustand unserer Lebensgeister dabei Einfluss haben, und ob die Eigenschaften des Gehirns es bewirken, dass manche Menschen die Eindrücke behalten, als wären sie in Marmor, Andere, als wären sie nur in Thon und wieder Andere, als wären sie nur in Sand eingegraben. Der Zustand des Körpers mag allerdings das Gedächtniss beeinflussen; oft beraubt eine Krankheit die Seele ganz ihrer Vorstellungen, und die Fieberhitze verbrennt in wenig Tagen alle Bilder zu Staub und Dunst, die so dauernd schienen, als wären sie in Marmor eingegraben.
§ 6. ( Häufig wiederholte Vorstellungen können kaum verloren gehen .) In Betreff der Vorstellungen selbst bemerkt man leicht, dass die, welche durch eine häufige Wiederkehr der sie erweckenden Gegenstände oder Handlungen am häufigsten erneuert werden (wozu die der Seele durch mehr als einen Sinn zugeführten gehören), sich am besten in dem Gedächtniss befestigen und am längsten darin klar bleiben: deshalb gehen die ursprünglichen Eigenschaften der Körper, also Dichtheit, Ausdehnung, Gestalt, Bewegung und Ruhe, und die, welche beinah beständig ungern Körper erregen, wie Hitze und Kälte, und die, welche Zustände sind, die allen Wesen gemein sind, wie Dasein, Zahl, Dauer, und welche beinah Jeder sinnliche Gegenstand und jeder Gedanke unsrer Seele mit sich führt, deshalb, sage ich, gehen diese und ähnliche Vorstellungen selten ganz verloren, so lange die Seele überhaupt noch Vorstellungen festhält.
§ 7. ( Bei dem Erinnern ist die Seele oft thätig .) In diesem zweiten Wahrnehmen, wie ich es nennen möchte, oder in diesem Wiedersehen der in dem Gedächtniss bewahrten Vorstellungen verhält sich die Seele nicht immer unthätig; vielmehr hängt das Erscheinen dieser schlafenden Bilder mitunter von dem Willen ab. Oft unternimmt die Seele selbst die Aufsuchung einer verborgenen Vorstellung und wendet gleichsam ihre Augen dahin. Mitunter springen sie aber auch in unsrer Seele von selbst hervor und zeigen sich dem Verstande; oft sind es drängende und heftige Leidenschaften, die sie aufwecken und aus ihren dunklen Zellen an das offene Tageslicht treiben; die Gemüthsbewegungen bringen Vorstellungen zur Erinnerung, die sonst ruhig und unbeachtet geblieben wären. Bei diesen in dem Gedächtniss enthaltenen und von der Seele gelegentlich erweckten Vorstellungen muss man indess festhalten, dass keine derselben eine neue ist (wie das Wort »erwecken« andeuten könnte), vielmehr erfasst die Seele sie als frühere Eindrücke und erneuert nur ihre Bekanntschaft mit ihnen, als schon vorher gehabten Vorstellungen. Früher empfangene Vorstellungen sind deshalb nicht immer gegenwärtig, aber wenn sie wieder hervortreten, werden sie von dem Verstande immer als solche erkannt, die früher einmal gegenwärtig gewesen und gewusst worden sind.
§ 8. ( Zwei Mängel des Gedächtnisses; das Vergessen und die Langsamkeit .) Das Gedächtniss ist nach dem Wahrnehmen das Unentbehrlichste für ein geistiges Wesen. Seine Bedeutung ist so gross, dass, wo es fehlt, die übrigen Seelenvermögen zum grossen Theile nutzlos werden, und man könnte ohne Gedächtniss beim Denken, Urtheilen und Wissen nicht über die den Sinnen gegenwärtigen Dinge hinausgehen. In dem Gedächtniss zeigen sich indess zwei Mängel; erstens , dass es eine Vorstellung ganz verliert und soweit vollkommenes Nicht-Wissen erzeugt; man kann nämlich die Dinge nur durch die Vorstellungen derselben kennen, und ist daher diese dahin, so ist man vollkommen unwissend; zweitens, dass es sich zu langsam bewegt und die Vorstellungen, die es bat und die in ihm aufgehäuft sind, in dem einzelnen Falle der Seele nicht schnell genug herbeischafft. Findet dies in einem hohem Maasse statt, so ist es Dummheit. Wer wegen dieses Fehlers die in seinem Gedächtnisse aufbewahrten Vorstellungen nicht schnell bei der Hand hat, wenn er deren bei Gelegenheit bedarf, ist nicht besser daran, als hätte er sie gar nicht, da sie ihm nichts nutzen können. Ein dummer Mensch, der über das Suchen nach diesen Vorstellungen, die er braucht, die Gelegenheit versäumt, ist in Bezug auf sein Wissen nicht besser daran als ein ganz Unwissender. Das Gedächtniss hat deshalb die Aufgabe, der Seele jene schlafenden Vorstellungen, die sie braucht, zuzuführen; insofern es dieselben jederzeit bei der Hand hat, besteht darin das, was man Erfindung, Phantasie und Geistesgegenwart nennt.
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