§ 9. Diese Mängel kann man schon bemerken, wenn man mehrere Personen mit einander vergleicht; dagegen mag wohl in dem menschlichen Gedächtniss, wenn es mit höheren Wesen verglichen wird, noch ein allgemeiner Mangel enthalten sein; jene übertreffen vielleicht den Menschen so sehr, dass sie die ganze Scene ihres früheren Handelns vollständig gegenwärtig haben, und dass keiner ihrer Gedanken, die sie je gehabt, aus diesem gegenwärtigen Wissen verschwindet. Die Allwissenheit Gottes, welcher alle Dinge, die vergangenen wie die gegenwärtigen und zukünftigen weiss, und vor dem die Herzen der Menschen offen da liegen, zeigt, dass dergleichen möglich ist. Offenbar kann Gott jenen hohen Geistern, seinen unmittelbaren Dienern, von seinen Vollkommenheiten so viel mitteilen, als ihm gefällt, und als die Natur endlicher Wesen gestattet. Von Herrn Pascal erzählt man, er habe eine solche Natur des Gedächtnisses besessen, dass er, ehe nicht seine erschütterte Gesundheit sein Gedächtniss geschwächt hatte, er nichts von Allem vergessen habe, was er zu irgend einer Zeit seit seiner Knabenzeit gethan, gelesen oder gedacht gehabt. Dieser Vorzug ist den meisten Menschen so unbekannt, dass er beinah unglaublich erscheint, weil sie Alle nur nach sich selbst zu urtheilen pflegen; indess können solche Fälle uns helfen für Wesen hohem Ranges, von deren grösseren Vollkommenheiten einen ohngefähren Begriff zu bekommen. Bei Herrn Pascal blieb immer die Schranke, wonach die menschliche Seele viele Gedanken nur nach einander, aber nicht gleichzeitig haben kann; die Engel in ihren verschiedenen Abstufungen haben aber vielleicht ein weiteres gegenwärtiges Wissen, und manche von ihnen vermögen vielleicht alle ihr früheres Wissen auf einmal als gegenwärtiges festzuhalten und immer sich vorzustellen. Für einen denkenden Menschen wurde dergleichen kein geringer Vortheil sein, und man kann daraus abnehmen, dass dies eine von den Arten sein mag, in denen, das Wissen der höheren Geister das unsrige weit übertrifft.
§ 10. ( Auch die Thiere haben Gedächtniss .) Viele Thiere scheinen so gut wie der Mensch das Vermögen, empfangene Vorstellungen aufzubewahren und festzuhalten, bis zu einem ziemlich hohen Maasse zu besitzen. Um andere Fälle nicht zu erwähnen, führe ich nur an, dass Vögel, welche Töne lernen, sich bestreben, die rechten Noten zu treffen, und dies zeigt unzweifelhaft, dass sie wahrnehmen, die Vorstellungen im Gedächtniss behalten und als Muster benutzen; ohnedem wäre es unmöglich, dass sie ihre Stimme den Noten anpassen könnten (wie sie doch thun), wenn sie keine Vorstellungen davon hätten. Ich gebe zwar zu, dass die Töne eine Art mechanischer Bewegung der Lebensgeister in dem Gehirn dieser Vögel bewirken, so lange der Ton angeschlagen wird; diese Bewegung mag sich zu den Muskeln der Flügel fortsetzen, und so der Vogel durch manches Geräusch mechanisch fortgescheucht werden, weil dies zu seiner Erhaltung dient; allein dies kann nicht erklären, dass während des Tones und noch weniger nach seinem Aufhören mechanisch eine solche Bewegung in des Vogels Stimmorganen bewirkt werde, die den Tönen einer fremden Stimme entspricht, zumal diese Nachahmung für die Erhaltung des Vogels nichts beiträgt. Aber mit noch weniger Schein kann angenommen (und noch weniger bewiesen) werden, dass der Vogel ohne Wahrnehmung und Gedächtniss seine Töne den Tags zuvor gehörten Tönen allmählich mehr annähern könne; hätten sie keine Vorstellung davon in ihrem Gedächtnisse, so bestände diese Vorstellung nirgends und könnte ihnen nicht zu einem Muster dienen, das sie nachahmen, und dem sie durch wiederholte Versuche mehr und mehr sich annähern könnten. Es ist kein Grund vorhanden, dass die Töne einer Pfeife in ihrem Gehirn Spuren zurücklassen sollten, welche nicht sogleich, sondern nach späterem Versuchen, die gleichen Töne hervorbrächten, und es wäre dann unbegreiflich, weshalb die eigenen Töne der Vögel nicht Spuren zurücklassen sollten, denen sie ebenso zu folgen hätten, wie den Tönen der Pfeife.
Elftes Kapitel.
Von dem Unterscheiden und andern Thätigkeiten des Verstandes
Inhaltsverzeichnis
§ 1. ( Es giebt kein Wissen ohne Unterscheidungsvermögen .) Als ein weiteres Vermögen der Seele zeigt sich das, vermöge dessen sie zwischen ihren verschiedenen Vorstellungen unterscheidet. Die verworrene Vorstellung von Etwas im Allgemeinen genügt nicht; hätte die Seele nicht eine bestimmte Auffassung von den einzelnen Gegenständen und deren Eigenschaften, so wäre sie nur weniger Kenntnisse fähig, wenn auch die uns umgebenden Körper ebenso, wie jetzt, uns erregten, und die Seele fortwährend mit Denken beschäftigt wäre. Auf diesem Unterscheidungsvermögen beruht die Beweiskraft und Gewissheit mehrerer, selbst sehr allgemeinen Sätze, die für angeborne Wahrheiten gegolten haben, indem man die wahre Ursache dieser allgemeinen Zustimmung zu denselben übersah und sie in natürlichen Eindrücken suchte, obgleich doch nur dieses Unterscheidungsvermögen es der Seele ermöglicht, zwei Vorstellungen als dieselben oder verschieden aufzufassen. Doch mehr hiervon später.
§ 2. ( Der Unterschied zwischen Witz und Scharfsinn .) Ich will hier nicht untersuchen, wie weit der Mangel dieses Unterscheidungsvermögens in der Stumpfheit oder Fehlerhaftigkeit der Sinnesorgane, oder in dem Mangel an Schärfe, Aufmerksamkeit und Hebung des Verstandes oder in dem heftigen und flatterhaften Naturell einzelner Temperamente liegen mag; es genügt, dass dieses Unterscheiden zu den Thätigkeiten gehört, welche die Seele in sich wahrnehmen und beobachten kann. Seine Wichtigkeit für alles andere Wissen erhellt daraus, dass, soweit Jenes Vermögen bei der Unterscheidung der einzelnen Dinge schwach oder frisch gebraucht wird, auch unsere Begriffe verworren sind, und unser Urtheil gestört oder irre geleitet wird. Darauf, dass man die Vorstellungen des Gedächtnisses schnell bei der Hand hat, beruht die schnelle Bewegung der Gedanken; darauf, dass man sie unverworren hat und ein Ding scharf von dem andern zu unterscheiden vermag, wenn der Unterschied auch noch so klein ist, beruht zum grossen Theile die Genauigkeit des Urtheils und die Klarheit des Denkens, durch die der Eine sich vor dem Andern auszeichnet. Daraus erklärt sich vielleicht, weshalb Menschen mit viel Witz und schnellem Gedächtniss nicht immer das klarste Urtheil und den eingehendsten Scharfsinn besitzen. Witz beruht mehr auf der Zusammenstellung von Vorstellungen und deren schneller und mannichfacher Verbindung; soweit dabei Aehnlichkeit und Uebereinstimmung gefunden wird, werden daraus gefällige und angenehme Bilder in der Phantasie geformt. Dagegen liegt das Urtheilen auf der entgegengesetzten Seite; es trennt sorgfältig die eine Vorstellung von der anderen, so weit sie sich unterscheiden; es lässt sich dabei durch Aehnlichkeiten und Verwandtschaft nicht irreführen, und eine Sache nicht für die andere nehmen. Diese Thätigkeit ist den Anspielungen und bildlichen Ausdrücken ganz entgegengesetzt, auf denen zum grössten Theil das Unterhaltende und Gefällige des Witzes beruht, womit er die Einbildungskraft anregt und aller Welt willkommen ist. Seine Schönheit tritt sofort hervor, und die Vernunft braucht dabei nicht mühsam zu untersuchen, wie weit er wahr und begründet ist. Die Seele sieht dabei nicht weiter, sondern ruht zufrieden aus bei der Annehmlichkeit des Bildes und der Heiterkeit der Phantasie; es wäre verletzend, den Witz nach den verschiedenen Regeln der Wahrheit und Vernunft prüfen zu wollen, und daraus erhellt, dass er aus Etwas besteht, was sich damit nicht ganz verträgt.
§ 3. ( Nur die Klarheit verhindert die Verwirrung .) Für die gute Unterscheidung der Vorstellungen hilft vorzüglich deren Klarheit und Bestimmtheit; haben sie diese Eigenschaften, so wird es kein Missverständniss oder Verwirrung geben, wenn auch die Sinne (wie mitunter geschieht) sie von demselben Gegenstand bei verschiedenen Gelegenheiten verschieden der Seele zuführen sollten und so zu irren scheinen. Wenn auch ein Mensch im Fieber von dem Zucker einen bittern Geschmack statt des süssen zu andern Zeiten haben sollte, so wird doch die Vorstellung des Bittern in seiner Seele ebenso klar und von der des Süssen verschieden sein, als wenn er nur Galle geschmeckt hätte. Es entsteht für die beiden Vorstellungen von Süss und Bitter dadurch, dass derselbe Gegenstand einmal bitter, das andere Mal süss schmeckt, keine grössere Verwirrung, als wenn die zwei Vorstellungen des Weiss und Süss oder des Weiss und Rund durch dasselbe Stück zu gleicher Zeit hervorgebracht werden. Die Vorstellungen von Orange und Blau, welche derselbe Aufguss von dem Holz gegen Steinschmerzen hervorbringt, sind nicht weniger bestimmt als die derselben Farben, welche andern Gegenständen entnommen sind.
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