General Sun Yuanliang war ein Absolvent des ersten Jahrgangs der Huangpu-Militärakademie und hatte am Nordfeldzug teilgenommen und im Widerstandskrieg gegen Japan als Korpskommandiereder gedient. Nach seiner Ernennung zum General diente er während des Chinesischen Bürgerkrieges als Kommandeur zweier Garnisonen und Befehlshaber der 16. Armee. Kurz vor seinem Tod auf Taiwan im respektablen Alter von 103 Jahren gab er noch ein letztes Interview, in dem er die Flüchtlingsströme während des Antijapanischen Krieges durchaus mit kritischem Blick beschrieb:
„Bereits zu Beginn des Widerstandskrieges gegen die Japaner erhielten wir Order, die Strategie der ‚Verbrannten Erde‘ zu befolgen. Also forderten wir unsere Landsleute dazu auf, den Evakuierungsanweisungen Folge zu leisten. Sie sollten sich zurückziehen oder zerstreuen. Wir hatten jedoch verabsäumt, Maßnahmen zur Versorgung der Flüchtlinge zu treffen. Ohne jegliche Hilfe seitens der Regierung irrten sie nur ziellos umher. Sie waren vollkommen sich selbst und einem ungewissen Schicksal überlassen. Das war wahrscheinlich der Anfang einer Entwicklung, die dazu führte, dass unsere Regierung in jenen Tagen das Vertrauen des Volkes auf dem Festland verlor.
Als ich mit meiner Truppeneinheit von Sichuan nach Guizhou marschierte, sahen wir überall Scharen von Flüchtlingen. In der Wildnis des Gebirges trafen wir auf Angestellte und Arbeiter von Eisenbahn- undStraßenbauunternehmen mit ihren Familien im Schlepptau. Uns begegneten Gruppen von verwahrlosten Schülern und Studenten mit ihren Lehrern. Ferner Industrie- und Minenarbeiter sowie deren Familien. Und immer wieder versprengte Soldaten ohne Orientierung, nachdem ihre Einheiten besiegt und aufgerieben worden waren. Unzählige Angehörige von Soldaten und Guerilla-Kämpfern mit ihren Kindern auf der Flucht vor Folter, Vergewaltigung und Versklavung. Millionen von Frauen, Männern und Kindern jeden Alters bildeten einen gewaltigen Menschenstrom, der immer mehr Heimatslose mit sich fortriss. Der Flüchtlingsstrom, der sich zwischen uns und dem Feind bewegte, stellte für den Angreifer keinerlei Gefahr dar, da er keine militärische Wehrfähigkeit besaß, behinderte jedoch die eigenen Truppenbewegungen.
Wo dieser Menschenstrom vorbeikam, waren umgehend sämtliche Nahrungsmittel aufgebraucht. Die verängstigten Dorfbewohner, denen nichts mehr geblieben war, reihten sich nun selbst in die flüchtende Masse ein. In den kalten Nächten machten die Menschen Feuer, um sich zu wärmen und eine armselige Mahlzeit zuzubereiten, sofern sie überhaupt etwas besaßen. Zwischen den Lagerfeuern war überall das Stöhnen der Alten und Kranken zu hören. Ständig weinten hungrige Säuglinge und abgemagerte Kinder, denn Hunger ist ein schmerzhafter Gefährte.
Am Wegesrand lagen unzählige Leichen, halb verwest und aufgequollen, achtlos in die Gräben geschoben, die voller Fäkalien waren. Der Gestank war bestialisch. Weit und breit gab es kein einziges intaktes Gebäude. Überall, wo wir hinkamen, waren die Häuser durch Bomben und Brände beschädigt oder völlig zerstört. Angesichts all dieses Elends fragte ich mich: „Was ist das bloß für eine Welt?“ Niemandem war es möglich, sich dieser grausamen Eindrücke zu entziehen. Es war nicht verwunderlich, dass auch die Soldaten seelisch litten und zunehmend den Mut verloren. Infolgedessen sank die Truppenmoral auf einen absoluten Tiefstand.“31
Unsere Flucht von Nanking bis zum Tempel der Stille von Ziliujing in der Provinz Sichuan dauerte etwas mehr als ein ganzes Jahr. Das Leben auf der Straße war voller unbeschreiblicher Leiden, doch wo auch immer wir einen Platz fanden, der halbwegs geeignet schien, wurde der Schulbetrieb wieder aufgenommen. Ob unter einem Dach oder im Freien, sobald es genügend Raum für ein paar Dutzend Personen gab, begannen die Lehrer sofort wieder zu unterrichten. Die Schule führte ausreichend Lehrbücher aus allen Fächern, Unterrichtsmaterial, Schreibutensilien und eine Grundausstattung an Mobiliar mit sich. Ja, es gab sogar eine einfache Laborausrüstung.
Wenn ich mich heute daran erinnere, wie die Lehrer uns damals unter derartig schwierigen Umständen unterrichtet haben, dann kann ich die Hoffnung und den Glauben der chinesischen Intellektuellen, zu denen sie ja gehörten, wahrhaftig nachempfinden. Tatsächlich hielten sie bis zuletzt an ihrer unerschütterlichen Überzeugung fest, dass China sich in einem Zustand vorübergehender Schwäche befände, jedoch auf lange Sicht im Stande sein würde, den Feind zu besiegen. So unterrichteten sie uns nicht nur in den klassischen Lernfächern, sondern lehrten uns auch durch ihr eigenes Vorbild grundlegende Werte wie Hingabe, Leidenschaft, Würde und Selbstvertrauen. Tag um Tag lebten sie vor unseren Augen das geschichtsorientierte Motto der Schule: „Im Reiche Chu überlebten nur drei Familien, doch sollte es einer der ihren sein, der einst den Tyrannen des Qin-Reiches vernichten würde!“
Nachdem sich die Zhongshan-Oberschule in Sichuan etabliert hatte, stieg die Quote der Absolventen hinsichtlich bestandener Aufnahmeprüfungen für die Zulassung an einer Universität stetig. In kürzester Zeit schaffte sie es sogar in die „Top Ten“ aller Oberschulen landesweit. Tatsächlich war die Zahl der Schüler während unserer Flucht sogar noch angestiegen, da die Schule unterwegs immer wieder heimatlose Jugendliche aus den Provinzen Jiangxi, Hubei, Hunan und Sichuan aufgenommen hatte. Ihre stolzen Absolventen dienten später zumeist in der Armee, arbeiteten für die Regierung oder engagierten sich in zahlreichen Bereichen des Kulturbetriebes.
Mit der Kapitulation Japans im Jahre 1945 endete der Krieg, und so kehrten die meisten Schüler der Zhongshan-Schule wieder nach Hause zurück in die Mandschurei. Fast ein Jahrzehnt hatten sie von ihren Familien getrennt gelebt, und sie waren des andauernden Herumziehens müde. So ist es auch nachvollziehbar, dass viele von ihnen während des erneut aufflammenden Bürgerkrieges zwischen der Nationalen KMT-Regierung und der Kommunistischen Partei Chinas lieber in ihrer zerbombten Heimat blieben, um die venenösen Hinterlassenschaften des Mandschukuo-Regimes zu beseitigen, den Wiederaufbau des Bildungswesens voranzutreiben und das nationale Bewusstsein wiederherzustellen. Doch die Zeit, die sie mit ihren Kommilitonen der Zhongshan-Schule wie Brüder und Schwestern verbracht hatten, verbunden nicht durch Blutsverwandtschaft, sondern durch Zuneigung und Fürsorge in Jahren des Elends, würden sie niemals vergessen.
In den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts wurde die Zhongshan-Schule in Shenyang wieder ins Leben gerufen. Die treibende Kraft dieser Unternehmung bildeten die ehemaligen Schüler, die nach dem Krieg in ihre Heimat zurückgekehrt waren, wie der Provinzgouverneur von Jilin, der Parteisekretär der KPCh der Provinz Liaoning und der Oberbürgermeister von Shenyang, um nur einige zu nennen. Jeder von ihnen hatte während der langen Märsche zur Evakuierung die Hymne der Heimatlosen gesungen: „Am Sunghua-Fluss war ich einst zu Hause.“
Zum 50-jährigen Jubiläum wurde 1984 auf Taiwan eine Denkschrift von ehemaligen Schülern in Form eines Sammelbandes herausgegeben. Dieser Band enthält 60 detailreiche Erlebnisberichte aus jener Dekade der Entwurzelung. Sechzig Schicksale, geschrieben mit Blut und Tränen. Das Memorandum beginnt mit folgenden Worten: Die Staatliche Zhongshan-Oberschule wurde mitten im größten Leid geboren, überlebte den Großen Krieg, ihre Schließung jedoch war zutiefst erschütternd. Seit ihrer Gründung sind 50 Jahre vergangen, und hat es während all dieser Zeit auch nur einen einzigen Tag gegeben, da wir glücklich und in Frieden sein konnten?
An einer anderen Stelle lese ich:
… Am nächsten Morgen nach dem Fahnenappell ging General Guan Linzheng auf das Podest rauf und sprach zu uns, mit Tränen in den Augen, dass die militärische Ausbildung eingestellt werden muss, und sagte dann: „Unser Staat ist so weit gebracht worden, dass er kaum noch einen wirklichen Staat darstellt. Die Wut und der Hass, den wir zu Recht empfinden, müssen nun zu einer unbezwingbaren Vergeltung gebündelt werden, wie sonst können wir uns noch als ‚Chinas Kinder‘ bezeichnen? Wie sonst können wir uns als Nachkommen der Kaiser Yan und Huang würdig erweisen?“ Jeder von uns war sofort total berührt und hatte einen dicken Kloß im Hals sitzen. Als der kühne General mit seiner Rede fertig war und wir wegtreten durften, war die Erde, wo wir gestanden hatten, ganz nass von den Tränen. Deutlich konnte man die dunklen Streifen sehen, Reihe um Reihe, Kolonne für Kolonne.
Читать дальше