Im November 1938 wurde es offensichtlich, dass die Japaner auf Changsha zumarschierten. In der Stadt verschlechterten sich die Verhältnisse von Tag zu Tag und die Luft vibrierte schier vor Angst und Unruhe. Nachdem die KMT-Regierung Anfang September ihren Regierungssitz nach Chongqing verlegt hatte, erreichten täglich mehr und mehr Flüchtlinge aus Hankou und dem Norden der Provinz die Stadt. Die Straßen schienen vor lauter Menschen bersten zu wollen. Schließlich kamen meine Eltern in die Provinzhauptstadt, um mich abzuholen. Wir fuhren noch am selben Abend nach Yongfeng zurück, denn meine Eltern wollten keine Zeit mehr verlieren, um die Vorbereitungen für unsere erneute Flucht abzuschließen.
In dieser Nacht kam es in Changsha zu einem Großbrand, der sich in Windeseile ausbreitete. Die Feuersbrunst tobte fünf Tage lang und zerstörte fast die gesamte Stadt. Zigtausende Menschen kamen in den Flammen oder während der Massenflucht ums Leben. Viel später erst wurde mir bewusst, wie viel Glück ich gehabt hatte. Welcher Engel hatte seine schützende Hand über mich gehalten? Doch ich fragte mich auch, warum so viele Unschuldige hatten sterben müssen, und ob sie vielleicht noch hätten gerettet werden können?!
Es waren sehr schöne Tage, die wir in der Kleinstadt Yongfeng bei Xiangxiang verbracht hatten. Und bis heute ist die Erinnerung daran lebendig! Die Provinz Hunan war bekannt für die Schönheit ihrer Landschaft und den Reichtum an natürlichen Ressourcen. Ihre Einwohner galten als aufrichtig und herzlich, voller Wissensdurst und dennoch beständig in ihren kulturellen Traditionen. Andererseits waren sie auch bekannt für ihre Beharrlichkeit, ihren an Sturheit grenzenden Eigensinn und ihr dünkelhaftes Selbstbewusstsein, weshalb man ihnen auch den Beinamen „Hunan-Esel“ gegeben hatte. Aufgrund der geologischen und klimatischen Gegebenheiten bezeichnete man die Provinz auch als das Land voller Fisch und Reis. Ganz gleich, ob Natur oder Landwirtschaft, alles gedieh auf üppige Weise. In meinem langen Leben habe ich viele Reisen unternommen und so einiges von der Welt gesehen, doch kaum habe ich einen Ort gefunden, wo es größere, saftigere Rettichrüben und schmackhafteren Chinakohl gab als dort. Bevor die Gewalt des Krieges diese Gegend erreichte, war das Leben in Hunan einfach und friedlich. Man lebte dort in einer Idylle, beinahe als wäre man vom Rest der Welt abgeschnitten, genauso wie das schöne Fleckchen Erde, das im Roman „Die Grenzstadt“ von Shen Congwen als die Heimat der hübschen Jade (Cuicui) beschrieben wird.
Die Gedenkschrift zum 50. Jubiläum der Zhongshan-Schule enthält einige Artikel, die alle von ihrer Zeit in Yongfeng erzählen. Im Zuge unserer langen Flucht, die uns häufig mit schwerwiegenden Hindernissen konfrontierte, erinnern wir uns gern an Xiangxiang und Yongfeng als eine ganz besondere Station, die zum Synonym wurde für eine bezaubernde Landschaft und eine gute Zeit der Lebensversorgung – wir, als Jugendliche, fühlten uns einfach sicher und genossen die Sorglosigkeit!
9 - Flucht von Xiangxiang nach Guilin
Am 21. Oktober 1938 waren die japanischen Truppen in der Bucht von Dapeng gelandet. Von dort aus besetzten sie die Hafenstadt Guangzhou (Kanton), um China von einem seiner wichtigsten Häfen zu isolieren und somit dringend benötigte Lieferungen von Kriegsmaterial zu blockieren. Im Zuge dessen setzten die Japaner die Stadt von verschiedenen Seiten aus in Brand. Die Feuer breiteten sich schnell aus und innerhalb weniger Stunden waren weite Teile der Stadt in einem Meer aus Flammen versunken. Im November des Jahres wurde Changsha, basierend auf einer falschen Information, von der eigenen, in Panik geratenen Kommandantur gemäß der „Politik der verbrannten Erde“ in Brand gesetzt. Am 27. Oktober wurde Chongqing offiziell zum neuen Regierungssitz der Republik China erklärt. Eine Woche zuvor hatte Chiang Kai-Shek in einem offenen Brief „An die Bevölkerung und Soldaten Chinas“ den Befehl zur endgültigen Evakuierung Hankous bekannt gegeben. Zugleich beschwor er die Nation, sich als eine große Einheit im Widerstandskrieg zusammenzuschließen, gemeinsam vom Südwesten aus zu kämpfen und keinesfalls aufzugeben: „China wird niemals kapitulieren!“ I
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte China schon ein Jahr und drei Monate lang erbitterten Widerstand gegen die japanischen Aggressoren geleistet. Somit hatte sich die kühne Prophezeiung des japanischen Militärs, China binnen drei Monaten in die Knie zu zwingen, als offenkundig wahnwitziges Versprechen entlarvt, das es dem Tenno und dem japanischen Volk gegenüber abgegeben hatte, um deren Einvernehmen für eine militärisch erzwungene Expansion zu erwirken. In ihrer Siegesgewissheit hatten sie es jedoch versäumt, sich hinlänglich über die geographischen Verhältnisse und die Zugänglichkeit des Terrains zu informieren. Vor allem der Südwesten Chinas präsentierte sich den japanischen Truppen als ein weit größeres geologisches Mysterium, als sie es sich je hätten vorstellen können, und wurde ihnen als solches schließlich zum Verhängnis. Die unwegsame Gebirgsregion mit ihren unzähligen Schluchten, reißenden Flüssen und dichten Wäldern brachte die militärischen Vorstöße der Japaner immer wieder zum Erliegen. Millionen von Soldaten der japanischen Streitkräfte waren über einen Zeitraum von acht Jahren in diesem mörderischen Unterfangen eingeschlossen. Hunderttausende fanden nie mehr den Weg zurück in ihre Heimat und starben einsam in der Fremde.
Die unbeschwerte Zeit und das trügerische Gefühl von Sicherheit, die ich während unseres Aufenthaltes in der Provinz Hunan erleben durfte, erscheinen mir heute wie ein Wimpernschlag. Während ich die Schule in Changsha besuchte, wurde die Lage in der Provinz zunehmend brenzliger, da die japanische Armee stetig vorrückte und einen Zangenangriff auf Hunan vorbereitete. Mein Vater hatte bereits vor meiner Rückkehr nach Yongfeng die erneute Evakuierung der Zhongshan-Schule organisiert. Meine Mutter, die sich inzwischen wieder hinlänglich von ihrer langen Krankheit erholt hatte, trieb uns Kinder zur Eile an, bis wir alle unsere Habseligkeiten gepackt hatten. Zunächst fuhren wir in einem Zug der kurz zuvor fertiggestellten Xianggui-Eisenbahnlinie, welche die Provinzen Hunan und Guangxi miteinander verband. Wir hatten den Zug in Hengyang bestiegen und fuhren Richtung Süden bis nach Guilin, der Provinzhauptstadt von Guangxi. Damals ahnten wir noch nicht, dass uns die Reise noch weiter westwärts über die Provinz Guizhou nach Sichuan weiterführen würde. Ja, auch dieses Mal hielten wir das kleine Lichtlein hoch und freuten uns daran, anstatt auf die Dunkelheit zu schimpfen. Als wir Guilin erreichten, hofften wir tatsächlich noch, dass wir dort für längere Zeit bleiben könnten, und so meldeten meine Eltern mich gleich bei der städtischen Mädchenschule an, wo ich die erste Klasse der Mittelschule besuchte. Wir waren dankbar für jeden einzelnen Schultag, an dem ich den Unterricht besuchen konnte, denn ein Tag mit schulischer Bildung war besser als einer ohne. Während ich im Internat der Schule untergebracht wurde, bezog meine Familie ein paar Zimmer in einer kleinen Pension. Mein Schulbesuch währte gerade mal eineinhalb Monate während des Wintersemesters.
Während jener Tage gab es zwei Vorkommnisse, die für mich nur schwerlich zu vergessen sind. Bei schönem Wetter und klarem Himmel kamen die japanischen Bomber immer tagsüber. Sobald das Heulen der Sirenen begann, rannten wir, angeführt von einigen älteren Schülerinnen der Oberstufe, zu einem nahegelegenen Flussufer am Stadtrand. Dort versteckten wir uns dann im Schatten der Trauerweiden. Aus dem Schutze der Bäume heraus konnten wir beobachten, wie die Flugzeuge schnell näher kamen und mit bedrohlichem Getöse direkt über unsere Köpfe hinwegdonnerten. Im Schein der Sonne waren die glänzenden Bomben gut zu erkennen, die wie Perlen an einer Kette herunterfielen. Wir hörten das bösartige Pfeifen der Geschosse, während sie auf die Stadt zurasten, Sekunden später folgten die ohrenbetäubenden Explosionen und über der Stadt stiegen schwarzgraue Rauchschwaden auf. Die Luft war erfüllt mit dem Geruch von Feuer und Tod … danach war Stille! Nur das leise Plätschern des Li-Flusses war zu hören, der vollkommen unbeeindruckt dahin- und weiterfloss.
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