Manchmal fanden die Luftkämpfe sogar direkt über uns statt. Wie die Bussarde meiner Heimat ihre Beute jagten, so verfolgten sich die chinesischen und japanischen Flieger. Dicht auf dicht flogen sie ihre gegenseitigen Attacken, während sie sich unentwegt mit den Bordgeschützen beschossen. Das Kreischen der Motoren und die knatternden Salven der Maschinengewehre versetzten uns in Angst und Schrecken. Vor lauter Anspannung wagten wir kaum noch zu atmen, doch jedes Mal, wenn ein Flugzeug mit dem „roten Zeichen der aufgehenden Sonne“ abgeschossen wurde, dann brachen wir in lauten Jubel aus und applaudierten, bis uns die Hände brannten. Einmal war eine feindliche Maschine ganz in unserer Nähe abgestürzt. Trotz aller Gefahren eilten wir zur Absturzstelle und bejubelten gemeinsam mit anderen Schaulustigen das Unglück. Es war ein unbeherrschter Moment der Freude, denn jeder einzelne Gegner, der zu Tode kam, erschien uns wie ein Funken Hoffnung.
Dann warteten wir darauf, dass die Sirenen mit einem langen Dauerton die Entwarnung signalisierten und wir wieder ins Wohnheim zurückkehren konnten. Ich kann mich noch gut erinnern, dass eine der älteren Schülerinnen in solchen Momenten immer begann, mit heller Stimme ein bestimmtes Lied zu singen: „Jeden Tag wasche ich mich im Wansha-Fluss, und liebestrunken zähle ich die Tage bis zu deiner Wiederkehr …“ Obwohl noch ein junges Mädchen, war ich dennoch schon alt genug, um ihre Beweggründe zu verstehen. Trotzdem fand ich es entsetzlich, ein derart „dekadentes Lied“ hören zu müssen, während am Himmel der Krieg tobte.
Das zweite Vorkommnis, das ich niemals vergessen habe, bezieht sich auf das Wohnheim der Mädchenschule. Dort herrschten strenge Regeln, und eine davon lautete: Ab 21:00 Uhr herrscht Bettruhe! Dazu wurde das elektrische Licht ausgeschaltet, das bedeutete für uns Schülerinnen: Wer nachts zur Toilette wollte, musste einen langen Portikus entlanglaufen, in dem nur zwei oder drei große Öllampen hingen, deren Dochte jedoch soweit heruntergedreht waren, dass sie nur ein schwaches Licht erzeugten. Dieser Laufgang war auf einer Seite von hohen tempelartigen Säulen flankiert und somit nach außen hin geöffnet. Sobald es etwas windiger war oder ein heftiger Regen fiel, warfen die Lampen unruhig flackernde Schatten in die Dunkelheit. Das war wirklich unheimlich und ich gruselte mich ganz schrecklich! Ganz egal, wie dringend ich zur Toilette musste, ich wartete immer so lange, bis eines der anderen Mädchen aufstand, um dann mit ihr zusammen dorthin zu gehen. Diese tanzenden Schatten habe ich bis jetzt noch lebendig vor Augen, wie eine Horrorvision, und das Gefühl der Angst ist noch immer so gegenwärtig, als wäre es erst gestern geschehen.
Meine lebhafte Fantasie wurde durch meine Mitschülerinnen auch noch richtig angeheizt, denn es war ein beliebter Zeitvertreib, sich regelmäßig, nachdem das Licht abgeschaltet worden war, die fiesesten Gruselgeschichten zu erzählen. Während ich dem Mädchen zuhörte, sah ich all die Geister und Fabelwesen klar umrissen vor meinem inneren Auge – sie wirkten so echt, dass ich vor lauter Angst fast ins Bett gemacht hätte. Doch die Vorstellung, zur Toilette gehen zu müssen, jagte mir einen noch größeren Schrecken ein, und dann zog ich mir die Decke über den Kopf, damit ich nicht mehr zuhören musste. Irgendwie entwickelte sich daraus eine Art „Furcht vor der Abenddämmerung“, was mich wieder an meine Zeit im Westberg-Sanatorium erinnerte. Gott sei Dank mussten wir schon bald darauf Guilin wieder verlassen und weiter Richtung Nordwesten ziehen, in die Provinz Guizhou. Für mich war das wirklich eine große Erlösung.
10 - Von Guilin nach Huaiyuan
Die Lage verschlechterte sich rasant. Die Armee der Republik China hatte große Verluste zu verzeichnen und der Nachschub an militärischer Ausrüstung sowie Lebensmitteln war unterbrochen. Auch in Guilin wurde die Lage zunehmend instabiler, da sie sich binnen kürzester Zeit zu einer Flüchtlingsstadt entwickelte. Unzählige Vertriebene aus Shanghai, Nanking und Wuhan strömten in die einst so idyllische Stadt des Duftblütenwaldes, bis sämtliche Aufnahmekapazitäten vollständig ausgeschöpft waren. Die Stadt schien vor lauter Menschen schier aus allen Nähten platzen zu müssen. Auch für die Zhongshan-Schule gab es nur provisorische Notunterkünfte. Schüler und Lehrer männlichen Geschlechtes wurden in den Tropfsteinhöhlen im „Park der sieben Sterne“ untergebracht; den Lehrerinnen und Schülerinnen wurden provisorisch errichtete Schilfgrashütten zur Verfügung gestellt. Inzwischen war mein Vater in die Provinz Sichuan gereist und suchte dort nach geeigneten Räumlichkeiten für die Schule. Mit Hilfe der örtlichen Behörden fand er schließlich eine Unterkunft im Ningjing-Tempel in der Nähe von Ziliujing, heute ist Ziliujing ein Stadtteil von Zigong in der Provinz Sichuan. Der Tempel der Stille war eine großzügige Anlage mit etlichen Hallen und Höfen, die ausreichend Platz bot, um all die Schüler unterzubringen und zu unterrichten.
Die nächste Etappe der Evakuierung sollte wesentlich beschwerlicher werden. Die Lehrer und Schüler wurden in drei Gruppen aufgeteilt und marschierten zu Fuß von Guilin aus Richtung Südwesten bis nach Liuzhou. Von dort aus ging es dann in westlicher Richtung nach Huaiyuan, einer kleinen Stadt im Landkreis Yishan, welche wiederum zum Verwaltungsbereich von Hechi gehört. Dort sollten sich die Gruppen an einem zuvor vereinbarten Platz wieder sammeln und eine Zeitlang abwarten. Nachdem sie sich etwas ausgeruht und ein klares Bild von der vorherrschenden Situation gewonnen hatten, brachen sie erneut auf und marschierten Richtung Chongqing. Das war die längste Etappe, denn Chongqing lag weit im Norden, im östlichen Teil der Provinz Sichuan.
Meinem Vater war es gelungen, dem Armeekommandanten von Guilin drei Armee-Lastwagen samt Fahrern und einigen Helfern abzuschwatzen, die er für den Transport der Schuleinrichtung benötigte. Meine Schwestern fuhren mit unserer Mutter in einem Linienbus nach Liuzhou, während ich gemeinsam mit meinem Onkel auf einem der Lastwagen mitfahren durfte. Die Ladefläche des Lasters war bis obenhin voll und wir mussten auf diesen Berg von Koffern und Kisten klettern, um einen Platz zum Sitzen zu finden. Damit wir während der Fahrt durch die bergige Landschaft nicht vom Wagen geschleudert werden konnten, hatten wir uns mit einem Seil am Geländer festgebunden. Trotzdem wurden wir während der Fahrt so richtig durchgeschüttelt, und es gab etliche Situationen, wo wir fürchteten, in einen der karstigen Abgründe zu stürzen. Eigentlich war ich ja eher ein Angsthase, aber ich war so mächtig stolz darauf, nicht mit den Kleinen im Bus fahren zu müssen, dass es in meiner schmächtigen Brust gar keinen Platz mehr gab für irgendeine kindische Furcht. Auch wenn es mir selbst nicht bewusst war, der Krieg ließ mich schnell erwachsen werden.
Wir blieben einige Tage in Liuzhou, um die nächste Etappe unserer Flucht zu organisieren. Der Kommandeur des erst seit kurzem dort stationierten Panzerregiments war ein Landsmann von uns aus dem Nordosten Chinas und Absolvent des achten Jahrgangs der Huangpu-Militärakademie. Dank seiner Fürsprache wurden uns einige Transportfahrzeuge zur Verfügung gestellt, mit denen meine Familie und die letzte Gruppe von Lehrern mitsamt ihren Angehörigen nach Huaiyuan gebracht werden konnten, wo wir vorerst wohnen sollten. Der Großteil der Lehrer und ihrer Familien befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits auf dem Weg nach Sichuan. Die kleine Stadt Huaiyuan liegt direkt am Ufer, wo der Xiaohuan-Fluss in den Drachen-Fluss mündet, eingebettet in die Ausläufer der Hochebene von Yunnan und Guizhou. Die Landschaft dort ist von atemberaubender Schönheit, doch meine Mutter hatte nach unserer Ankunft für all das keinen Blick: Jeden Tag ging sie, nachdem sie uns Kinder versorgt hatte, allein zum Ortseingang und starrte auf die staubige Straße. Über Stunden hockte sie dort am Straßenrand und wartete auf die Marschkolonne der Zhongshan-Schule, in der sich auch mein Bruder befand.
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