Der Zwischenfall von Xi’an, der von dem ungehobelten und draufgängerischen „Jungen Marshall“ Zhang Xueliang 1936 initiiert worden war, um Chiang Kai-Shek in eine Falle zu locken, beschädigte lediglich das Ansehen der Nationalrevolutionären Armee. Zhang setzte den Generalissimus fest, um einen Krieg gegen Japan zu erzwingen, konnte sich damit jedoch nicht durchsetzen und musste ihn schließlich wieder freigeben. Durch seine Torheit hatte er das Vertrauen Chiangs gegenüber den Verbündeten und dem Militär aus der Mandschurei für immer verspielt. Den Kommunisten hingegen hatte Zhang mit der Meuterei einen großen Vorteil verschafft, da ihre Armee im Augenblick der völligen Isolation in Yan’an eine einzigartige Überlebenschance erhielt. Dies wiederum bewirkte, dass sich der unerschütterliche Kampfgeist der Bevölkerung gegen die Japaner unter der Führung Chiang Kai-Sheks nun erst recht mit glühendem Enthusiasmus vereinte.
2 - Der Zwischenfall an der Marco-Polo-Brücke
Am 7. Juli 1937 eröffneten japanische Soldaten an der Marco-Polo-Brücke bei Peking das Feuer auf die Nationale Armee Chinas. Das eher halbherzig geführte Scharmützel jener Nacht sollte in der Folgezeit als „Zwischenfall an der Lugou-Brücke“ in die chinesische Geschichte eingehen, denn es war der Auftakt zu den Entwicklungen, die das Schicksal des modernen China entscheidend verändern würden. Und es schaffte die Voraussetzungen für meine innere Einstellung, ein Leben lang hart kämpfen zu müssen.
Kurz zuvor feierte ich mit meiner Klasse noch ausgelassen den bestandenen Grundschulabschluss und wir sangen auf dem Schulhof gemeinsam das Abschiedslied, dessen Worte der Realität nicht mehr gerecht wurden: „Jenseits des Pavillons, neben dem uralten Pfad, dort wo die duftigen Gräser sich frei zum Himmel empor strecken …“ Im nächsten Augenblick fiel die eherne Klinge des Krieges auf uns herab und meine von Krankheit geprägte Kindheit fand ein jähes Ende.
Nanking ist einer der drei sogenannten „Hochöfen am Jangtse (Yangzi)“ und der extrem heiße Sommer war noch nicht vorüber, als japanische Bomber mit dem Luftangriff begannen. Am 15. August 1937 traf die erste Bombe den überwiegend militärisch genutzten Flughafen in der Nähe des Ming-Kaiserpalastes. Gegenüber von diesem Flughafen befand sich das Zentral-Krankenhaus¸ wo meine Mutter erst drei Tage zuvor meine jüngste Schwester Xingyuan zur Welt gebracht hatte. Die enorme Druckwelle der Explosion ließ sämtliche Fenster und Türen des Krankenhauses zerbersten und überall flogen Mörtel, Glas- und Holzsplitter herum. Voller Panik rannten alle um ihr Leben, die Zimmer und Flure waren voller Staubwolken. Meine Mutter presste das Neugeborene an sich und lief barfuß hinter den anderen her, bis hinunter in die Kellerräume. Der Schock und die körperliche Anstrengung lösten bei ihr kurz darauf heftige Blutungen des Uterus aus. Zwei Tage später musste das Krankenhaus evakuiert werden und meine Mutter wurde auf einer Bahre zu uns nach Hause gebracht. Wir konnten nichts weiter tun, als dafür zu sorgen, dass sie die blutstillenden Pillen schluckte, und zuzuschauen, wie sie mit dem Tode rang.
Einen Monat nach den Schüssen an der Marco-Polo-Brücke marschierte die japanische Armee in Peking ein, nachdem sie Tianjin bereits eingenommen hatte. Zum vermeintlichen Schutz der ausländischen Konzessionen in Shanghai unterhielt Japan eine kleine Garnison innerhalb seiner Enklave. Von dort aus griffen die japanischen Verbände am 13. August 1937 die chinesischen Truppen an. Die Schlacht um Shanghai begann. Nacheinander fielen Städte in der Umgebung, wie Suzhou und Wuxi, zudem wurde die Bahnstrecke Shanghai-Nanking unterbrochen. Im Zuge ihrer Operation zur Einnahme der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte, wie Xuzhou, setzten sich die im Norden kämpfenden Truppen der Japaner entlang der Jinpu-Eisenbahn-Linie Richtung Süden in Marsch. Nanking, als Hauptstadt und Symbol des modernen China, stand in unmittelbarer Gefahr, isoliert und eingenommen zu werden. Umgehend begann die Regierung damit, Behörden und Bevölkerung zu evakuieren.
An manchen Tagen kündigte das markerschütternde Heulen der Sirenen bereits in den frühen Morgenstunden den ersten Fliegeralarm an und die Entwarnung kam oft erst nach Sonnenuntergang. Welle um Welle führte die japanische Luftwaffe ihre Bombenangriffe ohne Unterbrechung. Hauptziele ihrer Zerstörungswut waren die Hafenanlagen in Pukou, zentrale Betriebsanlagen der Eisenbahn, Militärstützpunkte und Regierungsgebäude. Die meisten Regierungsstellen hatte man bereits in aller Eile mitsamt Unmengen wichtiger Dokumente in den Südwesten Chinas geschafft. Die wenigen noch verbliebenen Beamten und Angestellten konnten ihre Arbeit nur noch in Luftschutzbunkern versehen. In jenen Tagen wusste niemand, der sich am Morgen aufmachte, um sein Tagewerk zu beginnen, ob er am Abend wieder heil nach Hause kommen würde.
Bereits im August war die Zentrale Militärkommission der KMT zum Oberkommando des Widerstandskrieges ausgebaut worden, um eine groß angelegte Militäroperation gegen die Japaner zu führen. Mein Vater wurde zum Sekretär in der Abteilung 6 bestimmt, welche von Chen Lifu geleitet wurde, einem engen Vertrauten Chiang Kai-Sheks. Bis September 1937 hatte bereits die Hälfte der Einwohner Nanking verlassen und im Oktober glichen die Straßen denen einer Geisterstadt. Inzwischen waren wir die letzten Anwohner in der gesamten Ninghai-Straße, denn alle unsere Nachbarn hatten Hals über Kopf das Weite gesucht. In der allgemeinen Hast hatten sie es versäumt, die Fenster und Türen der Häuser ordentlich zu verschließen, so dass diese nun durch die Böen des Herbstwindes immer wieder zugeschlagen wurden. Überall flogen Papierfetzen und Kleidungsstücke herum. Die ganze Atmosphäre schien von einer alles durchdringenden und bedrohlichen Leere erfüllt zu sein, die auf mich so gespenstisch wirkte, dass es mir eisige Schauer über den Rücken jagte. Morgens verabschiedete ich meinen Vater, der zur Arbeit ging, und stieg dann auf mein Fahrrad, um ein wenig herumzufahren. Nachdem ich die Hälfte der Straße hinter mir gelassen hatte, musste ich jedoch wieder umkehren, weil mir diese unnatürliche Stille einfach zu viel Angst machte. Das laute Heulen der Sirenen machte es aber auch nicht besser – jeden Morgen, sobald es hell wurde, erfüllten sie die Luft mit ihrem schrillen Warnsignal. In unserem Haus lebten damals ziemlich viele Leute und es gab keinen Luftschutzkeller in unmittelbarer Nähe, also mussten wir versuchen, einander Mut zu machen. Während in der Ferne die Bomben mit lautem Krachen detonierten, trösteten wir uns immer wieder aufs Neue damit, dass wir glücklicherweise so weit weg vom Stadtzentrum wohnten.
Nachts schlief ich allein in meinem Zimmer, gleich neben dem Schlafraum meiner Eltern. In klaren Nächten, wenn der Mond besonders hell schien, flog die japanische Luftwaffe zusätzliche Bombenangriffe. Dann klang das Heulen der Sirenen besonders schrill und ohrenbetäubend. Nach dem Alarmsignal, das aus einem langen Ton bestand, auf den zwei kürzere folgten, dauerte es nur kurze Zeit, bis wir das erste gefährliche Brummen wahrnehmen konnten. Mit dem Herannahen der Maschinen wurde das Brummen immer lauter und bedrohlicher. Dann hörte man den Krach der Explosionen, bis die Flammen der Brände den Horizont hell erleuchteten. Ganz allein in meinem Bett lauschte ich in das nächtliche Dunkel. Ich hörte, wie eine lose Ecke vom Fliegenschutz im Herbstwind flatterte und starrte dann zum Fenster. Das Flattern schien immer lauter zu werden und ich glaubte zu sehen, dass es feinen weißen Kalk vom Himmel regnete. Kalk, Löschkalk! Es schnürte mir die Kehle zu. Ich wollte mich verkriechen, doch ich war wie erstarrt. Vor meinen Augen fiel der Löschkalk auf die unendliche Treppenflucht, die zum Sun-Yat-Sen-Mausoleum auf dem Purpurberg hinaufführt. Er fiel auf die sanften Wellen des Xuanwu-Sees, dort wo der Wassergott in Gestalt eines schwarzen Drachens lebte, und bedeckte den Park an der Dongchang-Straße. Auch auf die Wippen der Trommelturm-Grundschule regnete es Löschkalk, auf die Blüten der Pagodenbäume vor unserem Haus in der Fouhou-Gang-Straße. Es schien, als verfolgte mich der Tod, und nun hatte sein Weg ihn schließlich bis vor mein Fenster geführt, wo er sich auf den Blüten der Sternwinde niederließ, welche bereits an dem neu geflochtenen Bambusvordach emporgerankt waren … Niemals werde ich vergessen können, wie meine von Krankheit stark geschwächte und zutiefst beunruhigte Mutter sich jeden Nachmittag bei Einbruch der Dämmerung mühsam vom Bett erhob, um meinen von Sorgen geplagten Vater zu begrüßen. Das war ihre Art, ihm zu zeigen, wie glücklich sie darüber war, ihn wiederzusehen und die Familie unversehrt beisammen zu haben!
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