Diese Tagung ist für mich ein positives Wandlungsbeispiel für die von Joachim Gauck angesprochenen langsamen »Prägungen der Seele und Wandlungen der Mentalität« und gibt mir Hoffnung, wenn wir nun im Jahr 2020 ein weiteres Jubiläum feiern dürfen: 30 Jahre deutsche Einheit.
Mein herzlicher Dank geht an die »geistigen Mütter« und Organisatorinnen der Tagung in Naumburg: Beate Jaquet, Madlen Tamm, Christine Ziepert.
Ebenfalls herzlich bedanken möchte ich mich bei meinen beiden Kollegen Kathrin Mann und Wolf Maurer, die uns an ihren Erfahrungen in meinem Workshop haben teilnehmen lassen.
de Shazer, S. (2002): Der Dreh. Überraschende Wendungen und Lösungen in der Kurzzeittherapie. Heidelberg (Carl-Auer), 14. Aufl. 2019.
»Gauck freut sich über ›Fridays for Future‹«. Süddeutsche Zeitung , 29.9.2019.
Hüther, G. (2018): Würde. Was uns stark macht – als Einzelne und als Gesellschaft. München (Knaus).
van Kampenhout, D. (2017): Die Tränen der Ahnen. Opfer und Täter in der kollektiven Seele. Heidelberg (Carl-Auer), 3. Aufl. 2018.
Madelung, E. u. B. lnnecken (2003): Im Bilde sein. Vom kreativen Umgang mit Aufstellungen in Einzeltherapie, Beratung, Gruppen und Selbsthilfe. Heidelberg (Carl-Auer), 4. Aufl. 2015.
Marks, S. (2019): Scham – die tabuisierte Emotion. Ostfildern (Patmos).
Proust, M. (2017): Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Berlin (Suhrkamp).
14Das systemische Institut Naumburg (SINN) bietet eine breite Palette systemischer Fortbildungen und Seminare an.
15Das Neuro-Imaginative Gestalten (NIG®) ist eine kreative Aufstellungsmethode, die sich durch einen Brückenbau zwischen systemisch-konstruktivistischen und systemischphänomenologischen Vorgehensweisen auszeichnet.
16In dieser und der folgenden Passage bis zum Ende des Beitrags wird der besseren Lesbarkeit halber meist nur das männliche grammatische Geschlecht verwendet; in diesen Fällen sind das weibliche grammatische Geschlecht sowie alle anderen denkbaren grammatischen Geschlechter aber immer mit eingeschlossen.
Scham – die tabuisierte Emotion 17
Stephan Marks
Vor genau 30 Jahren (also 1989) saß ich zufällig mit vielen anderen in Berlin auf der Mauer und habe auf sie eingehämmert. Ich kam gerade frisch aus den USA zurück und war noch im Jetlag. Ich hatte fünf Jahre in den USA gelebt und war zurück nach Deutschland gekommen mit der Idee, Wege zu finden, wie wir konstruktiv mit unserer deutschen Geschichte umgehen können. Ich hatte diese deutsche Geschichte immer als etwas Drückendes, Schweres erlebt.
Warum Hitler folgen? – Ein Forschungsprojekt
Diese Idee führte mich schließlich zu einem Forschungsprojekt, das ich 1998 in Freiburg im Breisgau gründete. Wir, zehn Forscher und Forscherinnen, führten Interviews mit Nazi-Anhängern, alten Menschen, die Hitler damals »toll« fanden. Eine Bevölkerungsgruppe, die bis heute in der Forschung fast völlig übergangen wurde. Ich wollte endlich verstehen, warum die Menschen Hitler damals folgten. Die Fachliteratur konnte mir bis dahin keine befriedigende Antwort geben.
Es gibt ja sehr viel Forschung über Adolf Hitler. Doch um zu verstehen, warum sich so viele Menschen für Hitler begeisterten, finde ich, bringt es wenig, Hitler noch detaillierter zu erforschen, sondern wir müssen, ganz einfach, die Anhänger befragen. Die Durchführung dieses Projekts stieß nicht nur auf Zustimmung. Manche Leute fanden das gar nicht so gut. Einige Kollegen im Hochschulumfeld haben den Kontakt mit mir abgebrochen: »Wenn Sie mit diesen alten Nazis reden, müssen Sie ja selber Nazi sein.«
Wir haben es trotzdem gemacht (oder: jetzt erst recht). Aber im Lauf dieser Interviews bemerkten wir plötzlich, dass wir uns schämen. Merkwürdig: Wieso schämen wir uns, wenn wir Nazi-Anhänger interviewen? Erst später habe ich es verstanden; wir interpretierten diesen Vorgang dann als Gegenübertragung. Als zum ersten Mal der Begriff »Scham« auftauchte, habe ich spontan in die Hände geklatscht, weil mir sofort klar war, dass wir jetzt endlich einen Schlüssel zum Verständnis des Nationalsozialismus gefunden hatten.
Daraufhin machte ich mich erst einmal kundig über die Scham. Ich trug die Forschung zu diesem Thema zusammen und habe dann zum ersten Mal wirklich verstanden, wie es damals möglich war, dass so viele Menschen Hitler folgten. All das habe ich zusammengefasst in dem Buch: Warum folgten sie Hitler? Die Psychologie des Nationalsozialismus (Marks 2007).
In den nächsten Monaten trat dann eine andere Frage in den Vordergrund. Wenn Scham damals so bedeutsam dafür war, Hitler »an die Macht« zu bringen: Welche Bedeutung hat sie heute, Jahrzehnte später, in der deutschen Gesellschaft? Es wurde mehr und mehr deutlich, wie viele untergründige Probleme der deutschen Gesellschaft mit einer unbewussten Schamthematik zu tun haben. Etwa unser Umgang mit Menschen ohne Arbeit. Wenn der Arbeitsplatz »abgewickelt« wird, hat das nichts mit Schuld zu tun, ist aber für Betroffene massiv beschämend, umso mehr, wenn es so gehandhabt wird wie häufig nach dem Ende der DDR. Wie gehen wir hierzulande mit alten Menschen um? Wie gehen West- und Ostdeutsche miteinander um? »Die Wessis«, »die Ossis«?
Vor allem hat mich elektrisiert, was in deutschen Schulen passiert. Seit Jahrzehnten wird geklagt, deutsche Schulen seien nicht so erfolgreich wie die in anderen Ländern.
Aus schampsychologischer Sicht ist das ganz einfach zu erklären: Auf der einen Seite werden in Deutschland die Lehrer und Lehrerinnen pauschal beschämt als faule Säcke, faule Hunde, Halbtagsjobber: von manchen Politikern, Medien und der öffentlichen Meinung. Auf der anderen Seite, obwohl Schule gewiss besser geworden ist, passiert es immer noch in jedem dritten oder vierten Klassenzimmer, dass Schüler und Schülerinnen von Lehrern und Lehrerinnen bloßgestellt oder lächerlich gemacht werden. Wie sollte Lehren und Lernen hierzulande gelingen, wenn für viele Lehrer und Lehrerinnen wie Schüler und Schülerinnen die Schule ein Ort der Entwürdigung ist?
Da ich selber sehr gelitten habe unter einem beschämenden Schulunterricht, machte ich mich auf den Weg, um das zu verändern, soweit ich das kann. Seitdem gebe ich Lehrerfortbildungen. 18Ich bekomme auch sehr viele Einladungen von anderen Berufsgruppen; ich habe seither viele Fortbildungen gegeben für Sozialarbeiter, Sozialpädagogen, Schuldnerberater, Polizisten, Mitarbeiter in Gefängnissen, Hebammen, Führungskräfte, Staatsanwälte, Therapeuten, Supervisoren, Mediatoren, Seelsorger, Pflegekräfte, Ehrenamtliche in der Telefonseelsorge, in der Hospizarbeit, in der Strafgefangenenarbeit und viele weitere: Menschen, die mit Menschen arbeiten.
In diesem Vortrag hier möchte ich Ihnen einige grundlegende Informationen über Scham vorstellen.
Zunächst möchte ich Ihnen eine Metapher mit auf den Weg geben, sodass wir uns die Scham auch bildlich vorstellen können. Sie geht zurück auf Salman Rushdie. In seinem Roman Scham und Schande schreibt er:
»Stellen Sie sich Scham als eine Flüssigkeit vor, sagen wir, als ein süßes, schäumendes Getränk, das aus Automaten gezogen wird. Sie drücken den richtigen Knopf, und ein Becher plumpst unter einen pissenden Strahl der Flüssigkeit« (Rushdie 2019, S. 145).
So weit, so gut. Aber was ist, wenn zu viel Scham da ist? Was ist, wenn mehr Scham da ist, als das Gefäß aufnehmen kann? Kein Problem, schreibt Rushdie. Viele Kulturen haben Minderheiten ausgewählt, und deren Aufgabe ist es, all die Scham, die zu viel ist, die keiner will, zu der sich keiner bekennt, all diese Scham aufzuwischen, aufzusaugen und zu verkörpern. Und wir haben keine gute Meinung von »diesen Leuten«, zum Beispiel in hinduistischen Gesellschaften sind dies die sogenannten Parias, die Unberührbaren, die so sehr den »Abschaum« einer Gesellschaft verkörpern, dass nicht mal der Schatten eines Parias auf einen »richtigen« Menschen fallen darf.
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