Fred hat soeben ein kleines Bier getrunken. Es war aber sein erstes und somit ist er noch weit davon entfernt, angetrunken zu sein. Das kommt erst, das dauert noch. Aber rauchen muss er eine, und da er seine Aufsichtspflicht ernst nimmt, raucht er sie am Beckenrand. Und das muss er jetzt tun, denn in einer halben Stunde kommen ein paar Schulklassen und dann gibt es kein Rauchen, sagt die Chefin und in diesem Fall hat sie recht, so wie beim Babyschwimmen, das sieht Fred ein. Er zündet sich eine Zigarette an, zieht, steckt seine Bademeisterpfeife in den Mund und bläst den Rauch mit einem lauten Pfiff oben aus der Pfeife raus. Das ist sein Markenzeichen, so etwas amüsiert ihn. Der laute Pfiff schreckt die Badegäste auf. Die Badegäste – das sind die beiden Kinder, die gelangweilt im Wasser stehen, weil sie nicht springen dürfen, der alte Nazi, der in seinem Ganzkörper-Badeanzug langsam auf und ab treibt, Georg und Grant in der Kantine, aber die hören den Pfiff nicht und sind in dem Sinn auch keine Badegäste, und die Mutter, die ihr Baby im Arm schaukelt und nicht zu wissen scheint, dass das Babyschwimmen im Winter immer erst am Mittwochnachmittag stattfindet. Als sie das Oberteil abnimmt, dreht Fred den Kopf zur Seite, so viel Anstand hat er – wenn er Brüste sehen will, dann kann er in die Sauna gehen, jeden Tag; auch wenn es nicht viele sind und fast immer dieselben.
Es ist kurz vor viertel zwölf, und wenn man das Baby mitzählt, sind fünf Badegäste da. Auf dieser Seite des Paralleluniversums wird nach anderen Regeln gespielt. Und trotzdem hat auch hier vor einer Stunde ein neuer Badetag begonnen.
Muss er ja.
Jetzt kommen die Kinder, Fred kann sie vom Bad aus hören, wie sie sich in der Eingangshalle breitmachen. Beinahe rutscht er aus, als er zu seinem Sessel läuft, wo er die Zigaretten liegen gelassen hat. Oh ja, die Kinder sind da, unüberhörbar. Gleich werden sie hier überall sein.
In der Eingangshalle: Die Schüler haben die orangen Sofas verschoben, unter die braunen Tischplatten Kaugummis geklebt, auf alle Schaukästen ihre Finger gedrückt, die Prospekte durcheinandergebracht, herumgebrüllt haben sie ganz nebenbei und sie haben Wurstbrote gegessen und auf dem Fußboden hinterlassen sie Wurststücke. Ein Lehrer und zwei Lehrerinnen stehen in der Ecke und rauchen. Sie lassen ihre Zigaretten in den Aschenbecher fallen und beginnen ihrerseits mit dem Gebrüll. Es dauert eine Weile, dann hört man ihnen zu und die Kinder treten in einer Reihe vor der Kassa an. Vier Schulklassen füllen die Eingangshalle, gut siebzig Schüler – und die Lehrer lassen jeden einzeln bezahlen. Das dauert. Rose an der Kassa beginnt zu schwitzen. Eigentlich schwitzt sie schon längst, weil die Heizung nicht richtig funktioniert und es viel zu warm hier drinnen ist, weil András es einfach nicht hinkriegt.
Ein Stockwerk höher beobachten Marina und Werner Antl das Treiben in der Eingangshalle durch ihr riesiges Fenster und schütteln synchron die Köpfe. »Früher haben sie das Geld noch in der Klasse eingesammelt«, sagt Werner, und Marina nickt. Er sieht sie an, dann sieht er wieder durch das Fenster. »Schau«, sagt er, »die Kleine da unten hat schon ein Handy.« Marina Antl zuckt mit den Schultern, und Werner geht zum Schreibtisch. Er trägt Hausschuhe, und heute fällt ihr das wieder besonders auf. Werner darf das , denkt Marina jeden Tag. Und das stimmt, denn Werner hatte früher zum Beispiel lange Haare. Er sitzt an seinem Schreibtisch und blättert. Marina setzt sich an den Computer und klickt mit der Maus. »Steht da auch drinnen, was es zu Mittag …?« Marina schüttelt den Kopf. Der Witz funktioniert einfach nicht mehr, und Werner sieht das ein und schweigt.
Die Kinder sind durch, der Lärm lässt nach und wandert in Richtung Garderobe. Rose schwitzt und will jetzt unbedingt ihre Hände waschen. Sie öffnet eine Schublade und holt eine Packung Desinfektionstücher hervor. Als sie mit der Desinfektion fertig ist, betritt ein Pärchen die Eingangshalle. Rose setzt dazu an, die Augen zu verdrehen, macht es aber nicht, weil die beiden ganz einfach bezaubernd aussehen.
Die Frau ist – für ein Hallenbad – echt herausgeputzt, hohe Schuhe, schwarzer Rock, Strumpf, lange, brünette Haare. Und er in einer teuren Sportjacke, seine Haare zurückgelegt, in Jeans, und seine Stiefel machen ein Klack bei jedem Schritt. Unbewusst richtet sich Rose in ihrem Kassastuhl auf. Sie wischt mit dem Handrücken über ihre verschwitzte Stirn und lächelt. Er kommt auf sie zu und zieht die brünette Dame hinter sich her. Seine Augenbrauen wackeln irgendwie. Rose ist nicht dumm: Sie weiß, dass die beiden es gewohnt sind, dümmlich angelächelt zu werden. Aber sie wird jetzt trotzdem mitspielen. Allein schon wegen seinem Klack, Klack, Klack . »Guten Morgen«, sagt sie lächelnd. »Nur Sauna«, sagt er mit wackelnden Augenbrauen, bezahlt und zieht seine Dame in Richtung Garderobe. Dann sieht er doch noch einmal über seine Schulter. Rose lächelt und kommt sich unheimlich verschwitzt vor. Ohne zu wissen, was das bringen soll, hofft sie insgeheim, dass er einer von denen ist, die diese Kombination aus sehr gutem Aussehen und unangenehmem Schweißgeruch zu schätzen wissen. Und wirklich, so dürfte es sein. Er zwinkert ihr zu, während er die Brünette durch die Garderobentür schiebt, seine Sporttasche über die Schulter wirft, die Tür aufdrückt und sich mit den Fingern durch die Haare fährt. Alles in einer fließenden Bewegung. Unter dem Kassatisch lässt Rose ihre Hausschuhe fallen und spreizt die Zehen.
Die Schüler haben sich umgezogen und über das Bad verteilt. Fred sitzt in seinem grünen Plastiksessel, atmet leise durch seine Bademeisterpfeife und versucht nicht aufzufallen. Die beiden Kinder von vorhin sind gegangen, weil ihnen jetzt zu viele Kinder hier sind, die Mutter und das Baby tun so, als würden sie schlafen, ebenso der alte Nazi, der zudem noch so tut, als sei er unsichtbar: Er hat ein Handtuch über seinen Kopf gelegt. Der Lehrer und die beiden Lehrerinnen stehen in der Ecke und suchen nach einem Aschenbecher. Bald beginnen sie wild zu gestikulieren. Fred sieht ihnen dabei zu, und was er sich vorstellt – die Sätze, die er ihren Gesten zuordnet –, trifft überraschenderweise ziemlich genau den Kern der Diskussion: Können wir dann gehen? , fragen die beiden Lehrerinnen. Und was soll ich mit den Kindern machen? , fragt der Lehrer. Wie habt ihr euch das vorgestellt? – Der Bademeister ist ja auch noch da . Fred sinkt in seinen Sessel zurück. Na, der wird mir weiterhelfen … – Stell dich bitte nicht so an. Was soll schon sein? – Ach, macht doch, was ihr wollt! – Ok, danke . Die zwei Lehrerinnen werfen die Handtücher über ihre Schultern und gehen. Also, bis dann! Alles fein! Freistunde in der Sauna.
Fred richtet sich wieder auf und zwinkert dem Lehrer zu: Ruhig bleiben, mein Freund. Ich bin ja auch noch da . Doch der Lehrer sieht das nicht, weil er mit seinem Badeschuh gegen einen Mistkübel tritt und danach Schmerzen hat. Nie wieder! Das will er damit sagen. Fred sieht es genau und bläst in seine Pfeife, weil er auch sieht, dass sich zwei Oberstufenschüler im Becken einen Kleinen vorgenommen haben und der knapp vor dem Ertrinken ist. »He!«, brüllt Fred. »Schluss da!« Dann zwinkert er dem Lehrer noch einmal zu und der schüttelt den Kopf. Fred atmet durch die Nase aus. Im Becken geht der Wahnsinn weiter. Bei jedem Sprung ins Wasser zuckt der alte Nazi unter seinem Handtuch zusammen. Wenn Fred dem Becken den Rücken zudreht, hat das beinahe jedes Mal ein noch viel lauteres Platschen zur Folge, wie es nur von einem heimlichen Sprungturm-Sprung kommen kann. Der Sprungturm ist gesperrt, was jene, die Regeln nicht ernst nehmen – und das sind einige –, nicht abhält. Der einzige Trost für Fred, wenn seine Autorität auf diese Weise wieder einmal mit Füßen getreten wird: Ein Sprung vom Turm ärgert den alten Nazi noch viel mehr als ein einfacher Randsprung.
Читать дальше