Im Aufzug schweigen alle oder sehen betreten zu Boden. Es klingelt, sie kommen ein Stockwerk höher an und gehen langsam durch die Eingangshalle. »Schon spät«, murmelt Kaufmann und zeigt Spreitzer seine Armbanduhr. »Ich weiß«, antwortet Spreitzer und dreht sich zu Werner und Marina um: »Wie sieht es mit unserem Kaffee aus?«
Als sie die Kantine betreten, ist es noch schlimmer, als Werner erwartet hat. Georg und Grant haben wieder ihre bescheuerte Musik durchgesetzt: Grant grölt in einen Zuckerstreuer, den er als Mikrofon benutzt, und Georg steht auf dem Tisch, an der Schank klatschen alle mit. Susi räumt die Gläser ab und humpelt merklich. Bella kommt auf Werner zu und flüstert – so laut, dass alle es hören können: »Der Willi, der hat sich im Kühlraum eingesperrt.« – »Ja«, sagt Werner, »ist in Ordnung. Könnten wir bitte vier Kaffee haben? Gleich?« Bella antwortet nicht, bleibt aber vor ihnen stehen. Zwischen ihren Zähnen steckt ein Zahnstocher, den sie im Mund vor und zurück bewegt. »Fräulein Susi«, ruft Marina, »vier Kaffee, bitte!« – »Sie sollen mich doch nicht so nennen«, ruft Susi und schafft es, dabei noch freundlich zu klingen. »Wir sitzen da drüben!«, ruft Werner und schiebt Hofrat Spreitzer wieder vor sich her.
Kaufmann klappt sein Notizbuch zu. Die Musik verstummt, Grant singt weiter in seinen Zuckerstreuer, Georg klettert vom Tisch. Dabei fällt ein Bierglas runter und zerspringt auf den Fliesen. »Das räumst du selbst weg!«, brüllt Bella. – »Leck mich!«, brüllt Georg zurück, nimmt dann aber doch den Besen, nachdem Bella ihm damit auf den Rücken geschlagen hat. Kaufmann und Spreitzer beobachten die Szene mit offenem Mund, ebenso Werner und Marina – in gewisser Weise aber auch fasziniert davon, dass es Bella und den anderen schlichtweg egal ist, dass sie hier die Besitzer des Hallenbads mit zwei Gästen der Stadtverwaltung am Tisch sitzen haben. »Kaffee kommt gleich!«, brüllt Bella und spuckt ihren Zahnstocher auf den Boden: »Aufwischen!«
»Also?«, Marina lächelt, und Spreitzer lächelt zurück. »Alles bestens«, sagt er. »Was passiert jetzt als Nächstes?« – »Nicht viel. Keine Angst.« – »Wir haben keine Angst.« Kaufmann sagt: »Das war nur eine Routinekontrolle.« Spreitzer sieht ihn eindringlich an. »Stimmt ja«, murmelt Kaufmann. »Komisch«, sagt Werner.
Susi humpelt auf den Tisch zu und kämpft mit dreimal Kaffee, der auch in den Untertassen schwimmt. »Der vierte kommt gleich.« Noch einmal wird es laut in der Kantine, Bella hat den Knopf der Kaffeemaschine gedrückt. Dann ist es wieder still, die Biergeister sitzen an der Schank, rauchen und benehmen sich. Es ist zu still, findet Werner und klappert mit seiner Tasse.
»Ich kann Sie wirklich beruhigen«, spricht Hofrat Spreitzer mit gedämpfter Stimme. »Mit Ihrem Hallenbad ist alles in Ordnung, das werde ich in der Stadtratssitzung noch einmal betonen. Es wird nichts passieren, was Sie nicht auch wollen.« Klingt wie aus einer Wahlkampfrede; Werner sucht nach den Falltüren. Er ist und bleibt eine Ratte , denkt er, aber leider auch ein Fuchs . »Bleiben Sie ganz entspannt, und gemeinsam finden wir eine Lösung.« – »Eine Lösung wofür? Ich wusste nicht, dass wir eine Lösung brauchen«, fällt ihm Marina ins Wort. Sie ist bereit, die Nerven zu verlieren. Spreitzer bewegt seine Hand unbeholfen über den Tisch, und bevor er sie auf Marinas Hand legt, erscheint Susi zur richtigen Zeit mit dem vierten Kaffee. »Bitte sehr.« Spreitzer gießt die Milch aus dem kleinen Kännchen in die Tasse, macht einen Schluck und verzieht das Gesicht zu einer Grimasse. »Wir müssen jetzt wirklich«, sagt er, »vielen Dank für den aufschlussreichen Nachmittag.« Er steht auf und nickt übertrieben zum Abschied. Kaufmann steht ebenfalls auf und flüstert Spreitzer etwas ins Ohr. Der hört zu, verzieht noch einmal sein Gesicht und wird laut: »Na, dann geh doch, Mensch!« Kaufmann fragt Werner: »Die Toiletten …?« – »Draußen in der Halle.« – »Ich warte beim Wagen«, sagt Spreitzer genervt, winkt, geht um den Tisch herum und beugt sich zu Marina, um tatsächlich einen Handkuss anzudeuten. Wäre sie besser aufgelegt, würde sie kichern und mitspielen; dazu sieht sie jetzt aber keinerlei Anlass. Werner schnauft, Spreitzer nickt ein weiteres Mal und geht.
Nicht einmal eine halbe Minute später wird an der Schank das Gemurmel merklich lauter, ebenso die Musik. Werner und Marina Antl sitzen immer noch auf ihren Plätzen, mit kaltem Kaffee in ihren Tassen, und über die steigende Lautstärke hinweg versuchen sie, ein paar grundlegende Fragen, die dieser Nachmittag aufgeworfen hat, zu klären. »War es so schlimm?« – »Was meinst du?« – »Hätte besser sein können.« – »Oh ja.« – »Was wollen die eigentlich?« – »Weiß ich nicht. Aber ich traue ihm kein bisschen.« – »Denkst du, ich?« – »Was machen wir jetzt?« – »Wir machen weiter.«
Werner und Marina schweigen und bleiben noch eine Weile nebeneinander sitzen. Es ist kurz nach sechs und jemand springt ins Becken. Bewegung im Wasser; am späten Nachmittag kommen die Nach-der-Arbeit-Schwimmer. In zwei Stunden ist Badeschluss. Die Kantine hat offiziell bis neun geöffnet, das ist aber selbstverständlich nur ein Richtwert. In Wahrheit hängt es von Bellas Laune und von der Leistungsfähigkeit ihrer Gäste ab. Also eigentlich doch nur von Bellas Laune, denn die Leistung ihrer Gäste ist auch deren einzig gute Eigenschaft – und schlechte zugleich (und hat jedenfalls keinen Einfluss auf Bellas Laune).
Hinter Werner und Marina machen sie sich bereit für den Abend. Sie versuchen, die Musik mit ihrem Gemurmel zu übertönen; das Ergebnis ist Kantinenlärm.
Das Hallenbad – ein Prachtbau von einem Betonklotz
Heuer begeht das Hallenbad am 13. März sein 29-jähriges Bestehen. Das soll mit einem Fest gefeiert werden – ein Probelauf für das große Fest zum 30. Jubiläum im kommenden Jahr. Wenn das Hallenbad dann überhaupt noch geöffnet haben wird; wenn es dann überhaupt noch steht.
Die goldenen Zeiten (die 1970er) sind lange vorüber, die 80er (ebenso golden für Hallenbäder) ebenfalls. Am Montag, dem 14. April 1986, übernahm das Ehepaar Antl offiziell die Geschäftsführung (voller Träume und großer Pläne). Die 90er waren bereits schwieriger – die meisten Menschen hatten schön langsam Besseres zu tun; die anderen verliebten sich in die Thermalbäder, das Ehepaar Antl blieb seinen Träumen und großen Plänen treu.
Heute kann man es nicht mehr genau sagen. Keiner weiß so recht, wie die 2000er einzuschätzen sind. Immerhin: Zum sogenannten Millennium ging die Welt nicht unter. Aber: In wenigen Monaten werden entführte Flugzeuge in Gebäude krachen. So gesehen: immer noch eine unschuldige Zeit, die Zeit vor dem 29-jährigen Hallenbadjubiläum und dem 15-jährigen Geschäftsführungsjubiläum des Ehepaars Antl, was in zweieinhalb Wochen gemeinsam gefeiert werden soll.
Kurzum: Heute, am Dienstag, dem 20. Februar 2001, hat man auf jeden Fall Schwierigkeiten, sich in der Welt zurechtzufinden. Sicher, die hatte man auch schon früher. Aber die 2000er – damit sind die Menschen noch immer nicht so richtig warm geworden; das werden sie wohl bis zu den 2010ern nicht. (Und danach wird er immer mehr zur Nebensache, der Wunsch, der Drang, sich zurechtfinden zu wollen.)
Außerdem (und vor allem – denn was kümmert die Leute im Hallenbad schon die Welt draußen und die Idee, dass ein neuer Weltkrieg oder etwas in der Art ( Weltkrieg , das sagt man heute so nicht mehr, hat man nicht einmal mehr zu Beginn der 2000er so gesagt) drohen könnte, der dann doch nicht kommt, aber nie ganz abwegig sein und das seine zur allgemeinen Verwirrung beitragen wird, ganz abgesehen von der Angst vor Anschlägen) wird es im Hallenbad jetzt langsam wirklich eng.
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