»Es wäre mir«, steht plötzlich der alte Nazi neben ihr, »eine große Ehre wäre mir das«, schnauft er Bella ins Ohr, und sie sieht ihn nicht einmal an: »Das kann ich mir vorstellen. Und warum sollte ich dir den Gefallen tun, alter Mann?« – »Hm«, macht Nazi Hermann, »ich weiß nicht … soll ich einmal die anderen fragen?« Er kichert und Bella ist sich ziemlich sicher, von unten her aus seiner Richtung auch einen Furz gehört zu haben. »Scheiß auf dich«, sagt Bella und gibt den Besen weiter an den alten Nazi. Der nimmt ihn, hört gar nicht auf zu kichern, steht auf seinen dünnen Beinen breitbeinig da, hebt den Besen hoch in die Luft und stößt einen schrillen Schrei aus: »Yyaaayyy!«, schreit er und zieht voll durch, trifft Grant an der Wade oder in der Kniekehle. Es klatscht, Grant brüllt vor Schmerzen auf und lässt seinen Körper von der Bar einfach nach vorne fallen. Als er ungebremst auf dem Boden aufschlägt, verziehen selbst die Härtesten kurz das Gesicht; zu hässlich ist das Geräusch. Dann ist es vollkommen still in der Kantine. Nur das zufriedene Schnaufen des alten Nazis ist zu hören. Mit dem Besen in den Händen steht er da.
Steht da und jetzt grinst er wieder, seine Oberlippe mit dem dünnen Schnauzbart zieht er hoch und zeigt ein paar spitze, alte Zähne; es ist ein gemeines Grinsen. Alle sehen ihn an, und er überlegt, ob eine Verbeugung angebracht wäre. Vom Boden, wo Grant liegt, kommt kein Laut. Der alte Nazi sieht in die Runde und sucht nach Georg, findet ihn und schickt ihm einen Blick, der besagt: Der Nächste bist du! , oder Leg dich nicht mit Hermann an! , oder etwas in der Art. Georg versteht und hebt die rechte Hand mit ausgestrecktem Mittelfinger. Mit den Lippen formt er stumm eine Reihe von Beschimpfungen: »A-l-t-e-r-D-r-e-c-k-s-a-c-k …« Und da er diesen Moment, den Moment, in dem das Glas fliegt, Auge in Auge mit Hermann verbringt, ist ausgerechnet der sein bester Zeuge: dass es nicht Georg war, der dem Alten das Bierglas an den Kopf geworfen hat, mitten ins Gesicht. Georg hat zwar nicht geworfen, ist aber der Einzige, der laut auflacht, als das Glas auf dem Kopf des alten Nazis zerplatzt. Georg lacht und hätte erwartet, dass der Alte etwas sagen würde wie »Schwere Artillerie!« – aber er sagt nichts. Mit dem gemeinen Grinsen noch immer im Gesicht fällt er einfach um. Jetzt lacht gar keiner mehr.
Da liegen sie, friedlich nebeneinander, Grant und der alte Nazi, wie zwei Freunde nach einer langen Nacht. Unter den beiden rinnt Blut hervor. Immer noch sitzen und stehen alle still, sehen dem Blut beim Rinnen zu. Im ersten Moment könnte keiner sagen, aus welchem der beiden das Blut kommt, das fragt sich zunächst auch niemand und niemand sagt ein Wort. Ein »Ähm« ist die erste Reaktion nach langer Zeit, gefolgt von einem Räuspern, dann noch ein Sesselrücken und endlich die Frage: »Ähm, sollten wir nicht einen Arzt rufen?« Es kommt von Georg, der den alten Nazi zwar ebenso hasst wie sein Barbruder Grant und insgeheim davon ausgeht, dass der Alte jener der beiden ist, der blutet, aber mit Sicherheit kann er das auch nicht sagen, und Blut ist eben Blut, und nicht lustig. Das sieht sogar Georg ein, und noch immer rühren sich die zwei auf dem Boden nicht, und Bella nickt und sagt: »Das könnten wir machen.«
Und weil niemand reagiert, wird Bella lauter: »Ja, dann macht das doch! Wer bin ich hier?! Bin ich eure Königin?« – »Irgendwie schon«, murmelt Willi und sucht in seiner Jacke nach dem Mobiltelefon. Susi greift inzwischen zum echten Telefon, und ein Bargast läuft raus zum Münzsprecher, und während er läuft, holt er ein paar Münzen hervor, und so rufen mindestens drei zugleich die Rettung, die eine Viertelstunde später mit vier Leuten und zwei Tragbahren in der Kantine erscheint, wo Bella und die anderen sich inzwischen vorsichtig und doch halbherzig um Grant und Nazi Hermann gekümmert haben, aber immer noch überall Blut und kaum sichtbare Wunden und kein Wort ist aus den beiden herauszukriegen, also sind am Ende alle – sogar Bella – erleichtert, als eben die Rettung auftaucht mit vier Leuten und zwei Tragbahren, die je zwei von ihnen auf Rollen in die Kantine schieben. Dass jetzt Profis hier sind, sorgt unter den Kantinengästen augenblicklich für Entspannung und für ein kollektives Gefühl von Gleichgültigkeit; die Sache ist erledigt und bald schon werden alle gemeinsam darüber lachen, Grant oder der alte Nazi, je nachdem, wer von den beiden jetzt wirklich blutet, wird dann einen Kopfverband tragen und sich lachend an den Kopf fassen, denn so geht das in der Kantine – man hat Spaß mit den eigenen Fehlern, und Spaß mit denen der anderen, und Spaß gibt es immer genug.
Aber nein, dieses Mal wohl nicht, denn die Rettungsleute haben die Polizei mitgebracht, und mit den Uniformen schlägt die allgemeine Stimmung wieder in eine allgemeine Anspannung um, denn jetzt sind sie alle Zeugen und sogar zwei Täter unter ihnen, und alle haben es irgendwie genau gesehen und wollen doch nur endlich wieder ihre Ruhe haben und frischen Schaum im Glas.
»Das wollen wir uns ansehen, haben wir gesagt«, lacht auch die Polizei, und dann sehen sie das Blut auf dem Boden und lachen nicht mehr, greifen an ihre Gürteltaschen und Inspektor Wels zieht den Schreibblock heraus. »Und geht schon los!«, sagt die Polizei, während die Rettungsleute Grant auf die Tragbahre legen – ja, eindeutig, Grant ist der, der blutet, und Nazi Hermann lehnen sie gegen die Schank. Er röchelt ein wenig und beginnt dann sofort wild zu schimpfen: »Dreckiges Dreckspack!« und »Mörder!«, brüllt er. »Na, na, na«, sagt Inspektor Wels und zeigt mit dem Finger auf seine Kollegin und dann auf Hermann. Kollegin Fritz geht vor der Schank in die Hocke und redet auf Nazi Hermann ein.
Hinter dem Rücken von Inspektor Wels versucht ein Unbeteiligter in aller Stille den Raum zu verlassen, und Georg folgt ihm. Bis zur Tür schaffen sie es, dann fährt Inspektor Wels herum und brüllt: »Stehen bleiben! Sofort stehen bleiben!« Man merkt ihm an, dass er erfreut ist, das endlich wieder einmal brüllen zu können. Und: »Wo soll’s denn hingehen, die Herren?« – »Aufs Klo«, murmelt der Unbeteiligte, und Georg sagt fast die Wahrheit: »Ich will wissen, wie es ihm geht.« Damit meint er Grant, den zwei der Rettungsleute inzwischen auf der Trage hinausgeschoben haben. Die anderen zwei behandeln den alten Nazi und der kreischt noch einmal: »Mörder!« und zeigt auf Georg, worauf Kollegin Fritz aufspringt und zur Tür läuft. »Langsam, langsam!«, wird jetzt auch sie streng, und Georg schreit den alten Nazi an: »Das stimmt nicht!«, und Inspektor Wels greift wieder an seine Gürteltasche.
So geht es hin und her und jeder Kantinengast wird befragt, und jeder stolpert durch seine eigene Geschichte, wobei alle versuchen, es so zu drehen, als seien Grant und der alte Nazi unglücklich gestürzt oder in einem Gerangel umgefallen oder ausgerutscht oder was weiß ich – blöde Sache eben, und am Ende glaubt keiner dem anderen nur ein Wort. Dass es Bella dabei gelungen ist, sich tatsächlich rauszuschleichen, hat niemand mitbekommen, und als Inspektor Wels fragt: »Wo ist denn eigentlich die Chefin?«, halten mindestens zwei Gäste ihre Bierkrüge vors Gesicht, damit man ihr Grinsen nicht sieht. Einen erwischt Kollegin Fritz beim Grinsen: »Finden Sie das lustig? Was ist so lustig? Wir wollen es auch lustig haben.« – »Nix, nix.« Und so geht es hin und her mit wechselnden Darstellern und Angebrüllten. »Was hast du da? Was versteckst du da?« – »Nichts, nur den Autoschlüssel.« – »Ach so.« – »Also, was ist so lustig? Wie heißen Sie?!« – »Immer nur eine Frage auf einmal.« – »Ich geb dir gleich eine Frage auf einmal, du … du …« Und Willi überlegt kurz, ob er sich in Kollegin Fritz verschauen soll, bleibt dann aber Fräulein Susi treu, die wiederum von Inspektor Wels auffällig oft beobachtet wird, aber bestimmt nur, weil sie ihm verdächtig erscheint.
Читать дальше