„Schön sie zu sehen - Maxi von Bergerdamm - wir haben schon geglaubt sie kommen nicht mehr…“ flüsterte eine Stimme aus diesem Inferno eines Albtraumes, eine Stimme, die ich kannte… aus einem Lied… Monsieur Hunderttausend Volt…. Natalie…. Gilbert Becaud…. Natalie…. Valeria Dernikowa… sie ist gekommen mich zu begrüßen….
„Hallo Maxi… ich bin es - Valeria Dernikowa - die Lady in Red… sind sie in Ordnung… geht es ihnen gut….?“ fragte die Stimme jetzt nicht mehr flüsternd, dafür schwang eine gewisse Unruhe oder Sorge in ihrem Klang, womit sie einer erwarteten Antwort auf ihre Frage - schon der Höflichkeit wegen - Nachdruck verlieh.
„Covid 19 - das Corona Virus, die Pandemie ist nicht mehr zu stoppen - alle werden zweitausendzwanzig sterben - die USA sind der Hotspot der Infektionen und Todesfälle… Zehntausende sterben täglich…. alles kommt zum Ursprung zurück - wo es vor Hundert Jahren begann - die Influenza H1N1 - die Spanische Grippe… wir sind alle verloren…“ murmelte ich meine Worte, getragen von den Stimmklängen hoffnungsloser Traurigkeit, ausgestattet mit den albtraumhaften Sekundenvisionen einer untergehenden Welt in der nahen Zukunft.
Valeria Dernikowa schaute mich aus großen Augen an, dann lächelte sie verständnisvoll, zupfte am Ärmel meines Marinehemdes und bedeutete mir in die Offiziersmesse einzutreten, wo sich bereits die meisten Forscher, Wissenschaftler, und Mediziner versammelt hatten, um die Begrüßungsworte durch den Kapitän der Georgi Schukow, Herrn Viktor Satchev zu hören und das Auslaufen des Eisbrechers in das arktische Nordmeer zwischen Grönland und dem geografischen Nordpol, umrahmt von einer prachtvollen Mittsommernacht, zu genießen. Vom zweiten Deck im Oberdeck der Brücke bot sich nicht nur dem Kapitän und den Offizieren, die sich alle beiderseits neben Viktor Satchev aufstellten, ein traumhafter Ausblick auf die Kola Bucht, den sich vom Hafen aus bis zum Horizont erstreckenden Meeresarm, dessen Wasser in allen Facetten des Polarlichtes glitzerte und funkelte und nichts von dem erahnen ließ, was in den nächsten Tagen und Wochen auf uns alle zukommen würde. Die Menschheit in ihrer globalen Urbanität geriet in drei Jahren in den Sog einer beginnenden Pandemie, die im Jahre 2020 alle Vorstellungen des Schreckens, Leidens und Sterbens sprengte.
„Kommen sie Max - dort drüben Backbord am Fenster, ein Zweiertisch - habe ich für uns reserviert. Ich möchte doch hoffen, dass ihnen das recht ist, immerhin bin ich ja ihre Kontaktperson an Bord - sozusagen die Mutter der Kompanie…“ wobei sie ein wenig lachte,“ so sagt man doch bei den Soldaten…“
Schwerfällig drehte sich sein Körper in Richtung der stimmlichen Ansage, und aus dem prall-roten Lippenpaar jener Frau zu seiner Linken flossen unentwegt betörende Töne, die Maximilian von Bergerdamm an eine Melodie erinnerte, welche er in seiner Kindheit in der Villa seiner Eltern über dem Ruhrtal in den Ausläufern des Bergischen Landes vernahm; der Bruder seines Vaters, Wilhelm von Bergerdamm, war als Ingenieur und strategischer Planer des Unternehmens auf allen Kontinenten dieser Welt im Einsatz, denn nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges liefen in den Neunzehnhundertfünfziger und sechziger Jahren die Aufbauarbeiten auf Hochtouren. Da waren die technischen Kenntnisse und Ingenieurleistungen der deutschen Stahlerzeuger und Maschinenbauer einfach unverzichtbar, was dazu führte, dass Wilhelm, von den Kindern seines Bruders Hans von Bergerdamm nur Onkel Willi genannt, Wochen- oder Monate, zuweilen Jahre von zuhause entfernt in fremden Ländern lebte und arbeitete. Onkel Willi war Junggeselle, so die allseits gebräuchliche Bezeichnung für einen unverheirateten Mann, was für Maximilian und seine Geschwister aber keine große Rolle spielte oder sie in irgendeiner Weise zum Nachdenken darüber anregte, warum das so war. Onkel Willi war für die von Bergermann Nachkommen der Inbegriff des Abenteurers, des Entdeckers, des großen Wohltäters der in fremde Lände fährt oder fliegt, um dort große Maschinenfabriken oder Kraftwerke zu bauen, die den Menschen dort ein besseres Leben schenkten. Zuweilen verglichen sie ihn mit dem großen deutschen Entdecker und Universalgelehrten von Humboldt, wenn auch der Vorname ein anderer war, aber jener Alexander hatte ja noch einen Bruder der Wilhelm hieß, und schon passte alles in der kindlichen Vorstellungswelt perfekt zusammen. Willi brachte stets wundersame Geschenke von seinen Reisen mit an die Ruhr, welche die Kinder dann im Zusammensein der Familienmitglieder auspacken und bewundern durften. Eines dieser Geschenke war eine indische Querflöte, eine Bansuri, die eng mit der hinduistischen Gottheit Krishna verbunden ist, denn dieser Hauptgott der Hinduisten wird oftmals als Flötespielender Gott dargestellt und verehrt. Onkel Willi spielte den Kindern auf dieser Bansuri wunderschöne Weisen, Melodien voller Anmut, Verklärtheit und Sehnsucht, mit denen die Seelen aller Menschen dieser Welt erreicht werden, so sagt es die hinduistische Mythologie. Willi erzählte uns von Bhagavad Gita, einem Lied und Gedicht gleichermaßen von unvergleichlicher Schönheit und geschichtlicher Schwermut, von Schicksalen und tapferen Kriegern, und so gehört es mit zu den zentralsten Schriften des Hinduismus. Onkel Willi brachte den Kindern, die seinen Erzählungen mit glühenden Wangen und leuchtenden Augen bis in die Nächte hinein lauschten, die Götter dieser fernen Welt Indien und des Hinduismus nahe. Er berichtete von Kali-Yuga, dem schwarzen Dämon, der nach Krishnas Tod im Jahre 3102 vor der Geburt Christi und seinem Aufstieg in den Himmel, seinen - Krishnas Platz einnahm. Zuvor jedoch bat der berühmte und tapfere Krieger Arjuna Krishna darum ihm seine Worte zu erklären worauf Krishna sagte „Ich bin die Zeit - gekommen um die Welten zu zerstören. Jetzt bin ich der Tod geworden - der Zerstörer der Welten“ so ein Zitat, das ein gewisser Richard Obermann als Metapher nach dem erfolgreichen Test der ersten Atombombe in der Wüste von New Mexiko gebrauchte. Nach der hinduistischen Mythologie leben wir jetzt im dunklen Zeitalter, dem Zeitalter des Verfalls und der Verderbtheit und steuern wie der Kapitän auf einem Schiff geradewegs in den Untergang. Die Kinder von Hans von Bergerdamm, so namentlich Maximilian, Waldemar, Konrad, Annegret und Amalia wussten nichts von den Atombomben auf bewohnte Städte, wussten nichts von Konzentrationslagern und dem Massenmord an Millionen Juden, wussten nichts von Euthanasie und Rassenwahn der Nazis - das alles hielten sowohl Onkel Willi als auch ihr Vater Hans von Bergerdamm von den Kindern fern. Annegret und ihre Schwester Amalia waren Zwillinge. Sie wurden vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges im Sommer 1939 geboren. Konrad im September 1943 und Maximilian und Waldemar im Februar 1948 sowie im April 1950. Damit war - wie es ein Kanzler der BRD einmal formulierte, die Gnade der späten Geburt die Lossprechung von der Erbschuld erfolgt.
„So - da wären wir - nehmen sie platz, von hier aus haben wir eine fantastische Aussicht auf die Kola Bucht, die Wälder ringsum und können trotzdem den Worten unseres Kapitäns Viktor Satchev zuhören… was möchten sie trinken - Wasser - das ist doch richtig Maximilian…?“
Die Teilnehmer der Expedition nahmen an den Tischen in der Offiziersmesse ihre Plätze ein, derweil Kapitän Viktor Satchev sein Headphone justierte und die Offiziere seiner Mannschaft auf dem Podium mit gedämpfter Stimme begrüßte. Dann wandte sich Viktor Satchev an die Gäste aller Teams auf seinem Schiff, und begrüßte mit kräftigem „Strastwuitje“ (Guten Tag) gleichfalls die neu hinzugekommenen russischen Wissenschaftler und Forscher zu dieser Reise auf dem Eisbrecher Georgi Schukow, hob sein Glas „Sa sdorowje“ (Auf Ihre Gesundheit“) hieß alle Frauen und Männer ganz herzlich willkommen, endete seine kurze Ansprache mit den besten Wünschen auf Erfolg und einem in nachdenklichem Ton gehaltenen „Budim zdarówy“ (Darauf - dass wir alle gesund bleiben). Viktor Satchev und seine Offiziere erhoben ihre Gläser in Richtung der Anwesenden und riefen laut mit ernsten Gesichtern „My schylájim schißtliwawa puti“ (Wir wünschen allzeit eine gute Fahrt). Dann deutete Viktor Satchev mit einer leichten Bewegung der linken Hand auf das Büffet und rief lächelnd “Prijatnawa apitíta“ (Guten Appetit). So dann schaltete er sein Headphone aus, und ging mit seinen Offizieren gleichfalls in Richtung Büffet, das mit Meeresfrüchten aller Art und typisch russischen Landgerichten mehr als üppig garniert war. Wie das Warten auf ein Kommando erhoben sich die Teammitglieder aus Forschern, Wissenschaftlern, Medizinern, Geologen, Vulkanologen und Meteorologen mehr oder weniger lautstark Stühle oder Tische rückend, um sich forschen Schrittes zum Quell der Verheißung, zum Tempel der Delikatessen aus den Ozeanen rund um das größte Land der Erde oder ganz banal zur Futterkrippe an Bord der Georgi Schukow, um sich mit Meeresfrüchten und anderen Leckereien der russischen Küche vollzustopfen, bis die Krabbenschwänze aus den Mündern heraushingen.
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