3. Untergang von Staaten beziehungsweise „Failed States“
Bei der Darstellung derivativer Staatsentstehung sind Fälle genannt worden, in denen Staaten untergehen.[510] Dort allerdings trat umgehend ein neuer Staat an die Stelle des bisherigen. Davon zu unterscheiden sind die Zeiträume, in denen ein Staat aus sich heraus nicht mehr alle völkerrechtlichen Staatlichkeitsmerkmale erfüllt, allerdings noch kein neuer Staat an dessen Stelle getreten ist. In einer solchen Situation von Untergang zu sprechen erweist sich als unpräzise, da es nicht ausgeschlossen ist, dass die staatsprägenden Merkmale zurückerlangt werden, die Staatlichkeit wieder auflebt. In den überwiegenden Fällen ist es die Staatsgewalt, mithin die territoriale Hoheit über das bisherige Staatsgebiet, die sich für einen gewissen Zeitraum, oftmals infolge eines Bürgerkriegs, auf verschiedene Akteure verteilt oder |90|gänzlich entfällt (sogenannter „failed state“).[511] Die Einordnung entsprechender Fälle und die Frage, wie dort (wieder) entstehende Staaten im Hinblick auf den völkerrechtlichen Kontinuitätsgrundsatz[512] einzuordnen sind, obliegt dem Völkerrecht.[513] Gleiches gilt im Hinblick auf „schlafende Staaten“, als die die baltischen Staaten vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion angesehen wurden.[514] Für die Allgemeine Staatslehre sind die Muster von Interesse, die zu einem solchen Verfall führen und wie es gelingen kann, auf dem Territorium eine erneut stabile politische Ordnung zu errichten. Aktuell stellt sich diese Frage etwa im Südsudan, in Libyen, in Somalia, der Zentralafrikanischen Republik, dem Jemen oder dem Libanon. In Syrien scheint sich das Assad-Regime nach Jahren des Bürgerkriegs wieder stabilisiert zu haben. In Afghanistan sind mittlerweile wieder die Taliban an der Macht.
366
Ein Beispiel bildet etwa die zu Indien gehörende Insel North Sentinel Island. Die UreinwohnerInnen haben bis heute praktisch keinen Kontakt zur Außenwelt.
367
Ein jüngeres Beispiel ist etwa die Entstehung Saudi-Arabiens aus den tribalen Strukturen der arabischen Halbinsel, vgl. J. Kostiner , Transforming Dualities: Tribe and State Formation in Saudi-Arabia, in: P. S. Khoury/J. Kostiner (Hrsg.), Tribes and State Formation in the Middle East, S. 226 ff. Insofern wäre auch die Errichtung eines neuen Staates auf einer Ölplattform („Sea Land“) keine originäre Staatsentstehung in diesem Sinne, sondern allenfalls die Entstehung eines neuen Staates (anders wohl B. Schöbener/M. Knauff , Allgemeine Staatslehre, § 3, Rn. 93 ff.). Das VG Köln (DVBl. 1978, 510) hat den völkerrechtlichen Staatscharakter allerdings ohnehin abgelehnt (fehlendes Staatsgebiet, zudem wohl auch fehlendes Staatsvolk).
368
Siehe auch H. Kelsen , Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 22 ff.
369
Dazu T. Terberger/D. Gronenborn (Hrsg.), Vom Jäger und Sammler zum Bauern. Die neolithische Revolution 2014; J. Thomas , The birth of Neolithic Britain: an interpretive account, 2013; L. Liu , The Chinese Neolithic, 2004. Siehe auch J. Suzman , Sie nannten es Arbeit, S. 169 ff.
370
Vgl. D. Christian , Origin Story, S. 204 ff.; A. Gamper , Staat und Verfassung, S. 28 f.; W. Haller/A. Kölz/T. Gächter , Allgemeines Staatsrecht, Rn. 2. Zuletzt J. C. Scott , Die Mühlen der Zivilisation, 2019, dessen Schlussfolgerungen und Glorifizierung des „Barbarenlebens“ allerdings nur partiell zu überzeugen vermögen. Ausführlich (auch zu den konkreten Forschungsmethoden) S. Scharl , Jungsteinzeit, 2021.
371
Entgegen der Behauptung von J. C. Scott , Die Mühlen der Zivilisation, S. 59 f. vertritt insofern auch niemand, dass sich unsere Vorfahren „Hals über Kopf in die neolithische Revolution oder in die Arme der frühesten Staaten“ stürzten.
372
Vgl. K. Eder , Die Entstehung staatlich organisierter Gesellschaften, S. 50 f.
373
Dass die Sesshaftwerdung auch mit Problemen einherging, bestreitet insofern niemand. Für eine Glorifizierung des Barbarenlebens spricht gleichwohl nichts. Insofern enthält die Untersuchung von James C. Scott (Die Mühlen der Zivilisation, 2019) durchaus viele interessante Aspekte, verwirft die bestehende Forschung aber allzu undifferenziert, um die eigene Grundthese umso revolutionärer aussehen zu lassen (was sie aber nicht ist). Siehe dazu auch meine Besprechung des Buches: A. Thiele , Rezension zu J. C. Scott, Die Mühlen der Zivilisation, Der Staat 61 (2022), i.E.
374
Die Diskussion dieses Prozesses wird seit Mitte des letzten Jahrhunderts vom Neoevolutionismus geprägt, der nicht mehr von einem geradlinigen Prozess ausgeht und vor allem den Eigenwert der einzelnen Kulturen anerkennt. Einflussreich vor allem E. R. Service , Primitive Social Organization, 2. Auflage 1971 mit seiner Unterscheidung von „bands, tribes, chiefdoms, states“ sowie ders ., Profiles in Ethnology, 2. Auflage 1971; ders ., Origins of the State and Civilization. The Process of Cultural Evolution, 1975. Bedeutend auch die Stufentheorie von M. H. Fried , The Evolution of Political Society, 1967 mit den drei Stufen „egalitarian, ranked und stratified societies“. Verfehlt insofern J. C. Scott , Die Mühlen der Zivilisation, S. 11 und passim, der behauptet, dass die Wissenschaft bisher von einem direkten Weg von der Sesshaftigkeit und Kultivierung zur Staatenbildung ausgegangen sei.
375
Als Lineages werden Gruppen einer Abstammungslinie bezeichnet, definiert entweder über die Mutterlinie (Matri-Lineage) oder über die Vaterlinie (Patri-Lineage).
376
K. Eder , Die Entstehung staatlich organisierter Gesellschaften, S. 40 ff.
377
Segmentäre Gesellschaften bestehen aus mehreren prinzipiell gleichberechtigten Gruppen, in der Regel Lineages.
378
Vgl. P. Collier , The Future of Capitalism, S. 32 ff. Zum kategorialen Unterschied menschlicher und tierischer Kommunikation auch D. Adger , Language Unlimited: The Science Behind Our Most Creative Power, 2019.
379
Das gilt allenfalls insoweit, als man ihnen abspricht politische Institutionen entwickelt zu haben, die denen des modernen Staates entsprechen. Diese Feststellung ist allerdings ebenso zutreffend, wie wenig weiterführend.
380
Vgl. G. Balandier , Politische Anthropologie, S. 34: „Wie falsch allzu statische Deutungen sind, zeigen jetzt neuere Arbeiten in einem Bereich, der lange als geschichtslos galt: bei den schwarzafrikanischen Gesellschaften und Kulturen.“
381
G. Balandier , Politische Anthropologie, S. 51: „So lehrt das Beispiel der ‚primitiven‘ Gesellschaften, die man einmal als egalitär bezeichnet hat, dass die Ungleichheit eine allgemeine Tatsache ist, und es zeigt zugleich ihre mildeste Form.“ Sowie ders ., aaO, S. 70: „Die sogenannten segmentären Gesellschaften sind keineswegs egalitär; sie kennen Beziehungen von Privileg und Unterordnung.“ Siehe jetzt auch A. Mittnik et. al. , Kinship-based social inequality in Bronze Age Europe, Science 2019, 1 ff. zu sozialen Schichtungen im späten neolithischen Zeitalter.
382
G. Balandier , Politische Anthropologie, S. 90. Vgl. auch N. Bolz , Diskurs über die Ungleichheit, S. 20: „Egalitarismus dagegen ist eine Anleitung zum Unglücklichsein.“
383
H. Kelsen , Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 23.
384
In diese Richtung aber wohl K. Eder , Die Entstehung staatlich organisierter Gesellschaften, S. 15: „Das bedeutet, die archäologische Rekonstruktion des Übergangs von neolithischen Dorfgemeinschaften zu hochkulturellen politischen Gesellschaften zum Ausgangspunkt einer evolutionistischen Deutung dieses Prozesses zu machen.“
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