Pädagogischer Hinweis
Nach individuellen Wahrnehmungsbesonderheiten Ausschau halten und anknüpfend an den Befunden ein Unterstützungsprogramm entwickeln. Hierzu können räumliche Anpassungen, zeitliche Strukturierungshilfen, Angebote sensorischer Integration sowie Strategien zur Prävention und Bewältigung von Stress sehr hilfreich sein.
(2) Unübliches Lernverhalten und Problemlösungsverhalten
Beobachtbar ist, dass Autist*innen häufig eigene Lösungswege für Aufgaben und Lernstrategien entwickeln. Visualisierung und Logik stellen dabei oft ein wichtiges Vehikel für kognitive Leistungen dar. Ebenso können spezielle Interessen der Person zum selbstständigen Lernen anregen und letztendlich zu Erfolgserlebnissen und Steigerung des Selbstwertgefühls führen. Einige „Selbstlerner“ verspüren „in ihrem Inneren“ kaum Impulse, das zu tun, was ihnen gesagt oder beigebracht wird. So schreibt die Autistin Iris Johansson (2019, 45): „Mir war nicht klar, was ich mit all dem machen sollte, was von anderen Menschen kam. (…) Das alles sah ich, und ich begriff es auf meine eigene Weise, doch etwas damit zu machen oder daran teilzunehmen, das war in meiner Welt nicht vorgesehen“; und ebenso gibt es „für uns keine Neigung und keinen Ehrgeiz, Dinge zu übernehmen, um selbstständig zu werden“ (ebd., 400). Daher sollten die selbsterschlossenen und selbstbestimmten Lern- und Lösungswege von nicht-autistischen Personen vor allem in pädagogischen Bereichen (Schule) und Arbeitsfeldern anerkannt werden. Notwendig ist ein gewisses Maß an Gelassenheit und Vertrauen in die Fähigkeit und Bereitschaft autistischer Menschen, die Grenzen ihrer Selbstbezogenheit zu öffnen, wenn dies aus der Betroffenensicht als sinnvoll erachtet wird. Voraussetzung für eine solche Öffnung gegenüber der Welt der Nicht-Autist*innen ist eine kommunikative Basis, die das autistische Personsein respektiert und achtet. Anderenfalls fühlen sich autistische Personen entwertet und verletzt, was „schnell zu einer Flucht-, Kampf- oder Starre-Reaktion“ (Vero 2020, 87) führen kann, bei der es nur noch um das „Überleben“ geht. Bei Kindern mit dem sogenannten frühkindlichen Autismus kann es dabei „zur Unterschätzung ihrer kognitiven Fähigkeiten (kommen, d. A.). Die meisten frühkindlichen Autisten befinden sich ständig im Überlebensmodus, in welchem sie nur noch einen begrenzten Zugriff auf die Basisprogramme 5haben. Dies ist durchaus von außen sichtbar, wird aber von der Umgebung als geistige Behinderung interpretiert. Das führt schnell dazu, dass Menschen mit frühkindlichem Autismus damit fast jede Kompetenz abgesprochen wird“ (ebd., 88).
Pädagogischer Hinweis
Vertrauen Sie den individuellen Fähigkeiten und selbsterarbeiteten Lernwegen. Bei mangelnder Lernbereitschaft sollten Stärken und Interessen aufgegriffen werden. Sie haben eine „Brückenfunktion“, um Motivation für den Erwerb neuer Informationen oder die Ausführung wünschenswerter Tätigkeiten zu wecken.
(3) Fokussiertes Denken und Spezialinteressen
Die große Mehrheit autistischer Menschen imponiert mit Spezialinteressen, die nicht nur zur selbstbestimmten Aneignung einer Sache (fokussiertes Denken und Lernen) beitragen, sondern „‚nutzenfrei‘ allein dem Erlebnis und der Befriedigung und Verarbeitung von Gefühlen dienen“ (Schmidt 2020, 55) und „eine Art Sicherheitsnetz“ (Vero 2020, 140) sein können. Da die intensive Pflege von Interessen aus der Betroffenensicht zur Steigerung der Lebensqualität beitragen, sollten sie weder ignoriert noch mit entwertenden Bezeichnungen wie „pathologisch“ oder „stereotyp“ betitelt werden: Stattdessen sollten sie Wertschätzung erfahren und nicht unterbunden werden.
Pädagogischer Hinweis
Es ist fruchtbarer an dem anzusetzen und das zu unterstützten, was eine Person kann und wofür sie sich interessiert, als ihr Defizite oder Fehlverhalten durch eine rigide, direktive Verhaltenssteuerung (wie bei den eng gestrickten Lernformaten nach ABA) vor Augen zu führen.
(4) Atypische, manchmal repetitive Bewegungsmuster
Dieses Merkmal gilt meist als motorische Auffälligkeit, da Personen im Autismus-Spektrum oftmals steif in ihrer Körperhaltung, motorisch ungeschickt wirken oder Schwierigkeiten haben, ihr Denken und Wollen handlungspraktisch (automatisch) umzusetzen (dazu Zöller 2020). Außerdem können Verhaltensweisen wie z. B. mit dem Oberkörper schaukeln, auf den Füßen wippen, Kreisdrehen oder mit den Händen flattern auftreten, die nach außen hin, gerade im schulischen Umfeld als von der Norm abweichend und mitunter störend empfunden werden.
Von Autist*innen werden diese (repetitiven, stereotypen) Verhaltensmuster als „ Stimming “ (selbst-stimulierendes Verhalten) bezeichnet (vgl. Vero 2020, 92 ff.), da sie dem Stressabbau dienen und der Person Sicherheit geben können. Solche Verhaltensmuster sind von Tics und Zwangsverhalten zu unterscheiden, die für autistische Menschen weniger mit positiver Stimulation und Vergnügen verbunden sind, sondern unter denen sie leiden (vgl. Kapitel II: Psychische Begleitstörungen). Stimming kann insofern als Bewältigungsstrategie betrachtet werden.
Eine weitere positive Sicht motorischer Besonderheiten ergibt sich an der Stelle, wo Menschen im Autismus-Spektrum ein sehr hohes Maß an Geschick aufweisen. Dies konnten wir z. B. bei autistischen Erwachsenen mit kognitiver Beeinträchtigung beobachten.
Pädagogischer Hinweis
Repetitives, stereotypes Verhalten nicht per se therapieren, sondern in seiner Bedeutung erschließen. Daran anknüpfend kann nach einem alternativen Verhalten Ausschau gehalten werden. Nicht selten können sportliche oder körperliche Aktivitäten und physisch-psychische Entspannungsangebote weiterhelfen.
(5) Bedürfnis nach Beständigkeit, Routine und Ordnung
Dieses Merkmal ist eng verbunden mit Schwierigkeiten, die autistische Menschen im Umgang mit (unerwarteten) Veränderungen, beispielsweise im Tagesablauf, haben können. Gleichzeitig weist es aber auf eine Fähigkeit hin, sich selbst zu organisieren. Zudem geht es um das Bedürfnis, „Ängste und Unsicherheiten unter Kontrolle zu halten“ (Schmitt-Lemberger 2020, 29). Eine große Rolle spielen Routine und Ordnung für das Sicherheits- und Vertrautheitsgefühl autistischer Menschen. Damit Regeln und Strukturen für autistische Personen einen Sinn ergeben, kann es von Vorteil sein, wenn die Betroffenen sich ihren Ablauf- oder Tagesplan selbst erstellen. Wenngleich solche Pläne Halt geben, kann „ein allzu rigides Festhalten an Strukturen (…) dazu führen, dass der Autist sich selbst im Weg steht und seine eigene Weiterentwicklung so blockiert. Meistens ist ihm dies nicht einmal bewusst“ (Schmidt 2020, 53). Daher macht es Sinn, frühzeitig ein flexibles Denken und Handeln zu trainieren, das aber braucht freilich „keinen Druck, sondern Zeit, Geduld und Verständnis“ (ebd., 53).
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