Bemerkenswert ist, dass die genannten Symptome nicht mehr wie bisher in den Klassifikationssystemen vor dem dritten Lebensjahr, jedoch in der frühen Entwicklung vorhanden sein müssen. Allerdings können sie sich erst zu einem späteren Zeitpunkt voll ausbilden, wenn sie „in klinisch bedeutsamer Weise“ zu einem Leiden oder zu Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen führen. Ferner müssen Ausschlussdiagnosen beachtet werden, so dürfen z. B. die genannten Symptome nicht durch Lernschwierigkeiten (Intelligenzminderung), ADHS, Persönlichkeitsstörungen oder psychische Erkrankungen erklärbar sein (dazu später).
Wie die US-amerikanische Psychiatriegesellschaft hat ebenso die Weltgesundheitsorganisation ihr bisheriges Klassifikationssystem ICD-10 überarbeitet und aktualisiert. Die neue Version ICD-11 wurde im Mai 2019 bei der Weltgesundheitsversammlung (World Health Assembly) verabschiedet. Da die Implementierung durch die Mitgliedsstaaten schrittweise erfolgt, beginnt die offizielle Nutzung der ICD-11 ab Januar 2022. In Anlehnung an das DSM-5 hat die ICD-11 gleichfalls die bisherige Unterscheidung von Autismusformen unter dem Begriff der „Autismus-Spektrum-Störung“ aufgehoben, den sie der Oberkategorie der neurologischen Entwicklungsstörungen („ neurodevelopmental disorders “) zuordnet (vgl. WHO 2019). Allerdings gibt es zwischen den beiden Klassifikationssystemen einen deutlichen Unterschied. So hat die ICD-11 Kategorisierungskriterien einer möglichen Beeinträchtigung der geistigen sowie der sprachlichen Entwicklung gebildet, da Menschen im Autismus-Spektrum eine weite Spanne von intellektuellen und sprachlichen Fähigkeiten aufweisen (vgl. [6A02 autism spectrum disorder], 04/2019; im Folgenden von uns ins Deutsche übersetzt):
•Autismus-Spektrum-Störung ohne Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung und mit geringer oder ohne Einschränkung der funktionalen Sprache
•Autismus-Spektrum-Störung mit Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung und mit geringer oder ohne Einschränkung der funktionalen Sprache
•Autismus-Spektrum-Störung ohne Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung und mit Beeinträchtigung der funktionalen Sprache
•Autismus-Spektrum-Störung mit Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung und mit Beeinträchtigung der funktionalen Sprache
•Autismus-Spektrum-Störung ohne Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung und mit fehlender funktionaler Sprache
•Autismus-Spektrum-Störung mit Beeinträchtigung der geistigen Entwicklung und mit fehlender funktionaler Sprache
•Andere spezifische Autismus-Spektrum-Störung
•Autismus-Spektrum-Störung, nicht näher bezeichnet
Charakterisiert wird Autismus (als Autismus-Spektrum-Störung) durch „anhaltende Defizite in der Fähigkeit, wechselseitige soziale Interaktion und soziale Kommunikation zu initiieren und aufrechtzuerhalten, und durch eine Reihe von eingeschränkten, repetitiven und unflexiblen Verhaltensmustern und Interessen. Der Beginn der Störung erfolgt während der Entwicklungsphase, typischerweise in der frühen Kindheit, aber die Symptome können sich erst später vollständig manifestieren, wenn die sozialen Anforderungen die begrenzten Kapazitäten übersteigen. Die Defizite sind schwerwiegend genug, um eine Beeinträchtigung in persönlichen, familiären, sozialen, erzieherischen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen zu verursachen und sind gewöhnlich ein allgegenwärtiges Merkmal des individuellen Funktionierens, das in allen Lebensbereichen zu beobachten ist, auch wenn sie je nach sozialem, erzieherischem oder anderem Kontext variieren können. Menschen, die sich im Autismus-Spektrum befinden, können unterschiedliche Ausprägungen der Intelligenz und der sprachlichen Fähigkeiten aufweisen“ (ebd.; Übersetzung d. A.). Diese Ausführungen decken sich bis auf Wahrnehmungsbesonderheiten weithin mit dem DSM-5.
Grundsätzlich kann angesichts der Gemeinsamkeiten zwischen dem Autismusbild von L. Kanner und H. Asperger die Einebnung der bisherigen Typen von Autismus (frühkindlicher Autismus, Asperger-Syndrom, atypischer Autismus) begrüßt werden. Gleichwohl sind einige Aspekte kritisch zu sehen:
Dies gilt z. B. für die Vernachlässigung der sprachlichen Besonderheiten im DSM-5. Möglicherweise hat dieser Kritikpunkt die Vertreter*innen vom ICD-11 dazu veranlasst, den sprachlichen Aspekt explizit herauszustellen. Dass zudem im ICD-11 der Intelligenzaspekt hervorgehoben wird, mutet hingegen befremdlich an. Dies ist nämlich bei psychischen Störungen (Psychosen, Schizophrenie, affektiven Störungen, Angststörungen etc.) und Persönlichkeitsstörungen unüblich und wirft die Frage nach dem Nutzen und Schaden auf. Was geschieht, wenn sich eine Person der Intelligenzerfassung verweigert oder wenn keine adäquate, verlässliche Beurteilung möglich ist? Wieweit werden durch eine diagnostische Zuschreibung oder Annahme einer Intelligenzminderung bei einer betroffenen Person Vorurteile, negative Prognosen und Prozesse sozialer Diskriminierung befördert? Bislang ist das ICD-11 noch nicht im Gebrauch, insofern bleibt abzuwarten, wie damit umgegangen wird.
Für die Bedingungen in Deutschland ist der Rückgriff auf das ICD-11 zur Diagnostizierung von Autismus zweifellos verlockend, weil dadurch im Unterschied zum DSM-5 Zuweisungen für Leistungsträger eindeutiger erfolgen können: Liegt Autismus und Intelligenzminderung vor, ist bei Kindern und Jugendlichen der Leistungsträger der Sozialhilfe zuständig; Autismus ohne Intelligenzminderung fällt hingegen bei Kindern- und Jugendlichen in den Zuständigkeitsbereich der Kinder- und Jugendhilfe. Diese Zweiteilung ist jedoch fachwissenschaftlich überholt und sollte ebenso im Sinne der Inklusion überwunden werden.
Pädagogischer Hinweis
Unter Inklusion verstehen wir die unmittelbare Zugehörigkeit oder Nicht-Aussonderung aller behinderten Menschen. Mit dieser Definition orientieren wir uns an der UN-Behindertenrechtskonvention, die den Zugang zum Verständnis von Inklusion durch fünf zentrale Aspekte genauer kennzeichnet:
1)Personale Wertschätzung und Respekt vor der behinderten Person und ihrem So-Sein
2)Zugänglichkeit (Barrierefreiheit, sodass z. B. behinderte Menschen Ressourcen nutzen oder Orte aufsuchen können, die nicht-behinderten Personen ungehindert zugänglich sind)
3)Einbindung in wechselseitigen, gegenseitig abhängigen Beziehungen im persönlichen Nahbereich und in gesellschaftlichen Kontexten
4)Selbstbestimmung (persönliche Wahl- und Entscheidungsfreiheit)
5)Partizipation (Teilhabe im Sinne von Mitsprache, Mitbestimmung und Mitgestaltung)
Weitere Kritikpunkte, die beide Klassifikationssysteme betreffen, beziehen sich auf die mangelnde Berücksichtigung motorischer Besonderheiten, auf die unzureichende Beachtung von Besonderheiten bei Mädchen/Frauen 3, auf die Vernachlässigung einer Entwicklungsperspektive (Erwachsenenalter) sowie auf die einseitige, negative Auslegung sogenannter „restriktiver Interessen und repetitiver, stereotyper Verhaltensweisen“. Hierbei kann es sich nämlich auch um eine Quelle von Freude und Glück (Flow), um ein „informationssuchendes“ oder um ein subjektiv bedeutsames, kompensatorisches Verhalten zur psychischen Beruhigung handeln. Manche Autist*innen betrachten ein solches Verhalten als „überlebensnotwendig“ (vgl. Schmidt 2020, 53 ff., 60; Vero 2020, 87 f., 92). Umso wichtiger ist eine verstehende Sicht dieses Verhaltensbereichs, um die Funktion von repetitivem Verhalten oder eingeschränkten Interessen zu erfassen.
Pädagogischer Hinweis
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