„Autismus zu verstehen, ist die Voraussetzung dafür, um als Außenstehender die dringenden Bedürfnisse autistischer Menschen anzuerkennen“ (Schmidt 2020, 150).
Ferner ist es einerseits begrüßenswert, dass das DSM-5 Hyper- oder Hypowahrnehmungen beachtet, andererseits ist es schwer nachvollziehbar, dass dieser Bereich den „eingeschränkten, repetitiven Verhaltensmustern, Interessen oder Aktivitäten” untergeordnet wird. Wahrnehmungsbesonderheiten stellen nämlich ein zentrales Merkmal von Autismus dar, das zu „eingeschränkten, repetitiven Verhaltensmustern, Interessen oder Aktivitäten” führen kann, aber nicht umgekehrt.
Zu einer einseitigen Betrachtung verleiten darüber hinaus die sogenannten „Defizite in der sozial-emotionalen Wechselseitigkeit”. Damian Milton (2018), ein Gelehrter und Dozent aus dem Autismus-Spektrum, sieht hier ein „doppeltes Empathie-Problem“. Was damit gemeint ist, signalisiert unter anderem die folgende Beobachtung:
„Wenn sie (die autistische Tochter eines Bekannten von H. Markram) unter die Dusche sollte, wuchs es sich zum Drama aus. Wie eine Katze wehrte sie sich, Kratzen, Beißen, Wasserschlacht, und der Vater, wütend, schimpfte mit ihr: Kannst du nicht mal eine Dusche nehmen! Nur eine Dusche! Jeder duscht. Stell dich nicht so an! Es ist nur Wasser! Allein, sie stellte sich nicht an. Die Tropfen fielen nicht wie Tropfen, sie fielen wie heiße Nadeln, folterten sie, und da sie wie viele Autisten nicht sprach, redete sie mit Händen und Füßen, sie versuchte nur ihre Haut zu retten, mit verzweifelter Gewalt. War das denn so schwer zu verstehen? (…) Wir sagen, Autisten fehlt Empathie. Nein. Uns fehlt sie. Für die Autisten“ (Markram zit. n. Wagner 2018, 135, f.).
Tatsächlich fällt es nicht-autistischen Personen sehr oft schwer, sich in das Denken und Handeln von Autist*innen hineinzuversetzen und die Bedeutung ihres Verhaltens nachzuvollziehen. Dies betont auch die Autistin Gabriele Schmitt-Lemberger (2020, 49), Mutter eines nicht-sprechenden Autisten mit ADHS. Leid entsteht oftmals erst dadurch, dass autistische Personen nicht verstanden werden und dass gegenüber ihrem Verhalten und ihren Sichtweisen Unverständnis zum Ausdruck gebracht wird.
Das zeigt sich nicht nur bei der Empathie, sondern ebenso bei sozialen Interaktionen. Interessant sind hierzu Forschungsstudien, die ähnlich wie bei dem „doppelten Empathie-Problem“ den Schluss eines „doppelten Interaktionsproblems“ nahelegen (vgl. Sasson et al. 2016; Fontenot 2020). Demzufolge sollten wir es vermeiden, nur autistischen Personen Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion zu attestieren. So zeigen z. B. viele autistische Personen im Zusammensein mit anderen autistischen Menschen ein hohes Maß an sozialer Interaktion und Kommunikation (dazu auch Seng 2019).
Merkbox
Nicht wenige autistische Menschen berichten, dass sie nicht unter ihrem Autismus leiden, sondern unter psychischen Begleiterscheinungen (z. B. depressiven Störungen) und vor allem unter den Reaktionen ihres Umfeldes (unter Mobbing, Hänseleien, Diskriminierung, Anfeindungen, mangelndem Zutrauen, Ignoranz individueller Fähigkeiten oder Stärken). Ein Leidensdruck entsteht nicht selten aus Missverständnissen und resultiert seltener aus dem Autismus.
Betroffene wenden sich daher gegen die noch weit verbreitete Pathologisierung autistischen Verhaltens: „Die Art, wie wir anders sind als andere Menschen zu pathologisieren, empfinden wir als Diskriminierung“, und „wir wehren uns dagegen, dass Autismus nur über Defizite definiert wird“ (Aspies e. V. 2008).
Ebenso wird die Defizitorientierung der Klassifikationssysteme scharf kritisiert; und es wird nicht akzeptiert, dass nur persönliche Defizite als Ursache für Beeinträchtigungen in verschiedenen Lebensbereichen betrachtet werden. Diese einseitige Sicht untergräbt die Wechselwirkungen zwischen persönlichen und Umweltfaktoren und missachtet externe Einflüsse auf autistisches Verhalten.
Autismus aus der Betroffenensicht
Die Auseinandersetzung mit der medizinischen Betrachtung von Autismus, die sich in den Klassifikationssystemen widerspiegelt, hat viele Betroffene, insbesondere Aktivist*innen aus Selbstvertretungsgruppen, dazu veranlasst, sich selbst mit Autismus zu befassen und eigene Positionen zu entwickeln. Warum dies wertvoll ist, führt uns die Autistin Jasmine O‘Neill (2001, 12 f.) vor Augen:
„Zu viele Eltern und Betreuer autistischer Menschen schenken schriftlich oder mündlich weitergegebenen Fehleinschätzungen Glauben. Was Ärzte oder Psychologen sagen, braucht nicht immer wahr zu sein. Manche so genannte Experten sind schlichtweg inkompetent. (…) Viele Aussagen Außenstehender über autistische Menschen sind reine Spekulation. (…) Besonders empfehlenswert ist es, medizinische Texte mit anderen Quellen zu kombinieren.“
Ergänzend äußert sich der Autist Hajo Seng (zit. in: Kohl, Seng & Gatti 2017, 358 f.):
„In den Erfahrungen autistischer Menschen stehen dagegen andere Aspekte im Zentrum, vor allen Dingen ihre Wahrnehmung und ihr Denken betreffend. Ihre Erfahrungen und Reflexionen ermöglichen andere, bislang kaum beachtete und vermutlich auch für das Leben autistischer Menschen relevantere Zugänge zum Autismus.“
Vor diesem Hintergrund wurden von uns autobiografische Schriften und insbesondere Erkenntnisse aus der Sicht Betroffener wissenschaftlich aufbereitet. Eine führende Rolle kommt im Hinblick auf Umgang mit Autismus dem weltweit agierenden Autistic Self Advocacy Network (ASAN) zu (vgl. Kapp 2020; Theunissen & Sagrauske 2019; Theunissen 2020). Zentrale Anliegen dieser politisch einflussreichsten Selbstvertretungsorganisation sind:
•Nichts über uns ohne uns! (Empowerment im Sinne von Selbstvertretung, Mitsprache, Mitbestimmung und Mitgestaltung)
•Wertschätzung der Neurodiversitätshypothese (Diese besagt, dass es keine „normale Gattung von Mensch“ gibt, sondern eine breite Palette an Möglichkeiten, wie das menschliche Gehirn neuronal angelegt und vernetzt sein kann)
•Verabschiedung vom Heilungsgedanken und Verbot aversiver (bestrafender) Therapiemethoden oder Interventionen
•Verzicht auf restriktive Therapiemethoden (z. B. in Bezug auf direktiv angelegte ABA-Formate 4einer intensiven Verhaltenstherapie) zugunsten unterstützender Maßnahmen für ein „Leben mit Autismus“
•„Partizipative Autismusforschung“ und Unterstützung von Forschungsprojekten und Maßnahmen, die die Erhöhung von Lebensqualität und Verbesserung der Lebenssituation von Autist*innen zum Ziel haben: z. B. inklusive Bildung; inklusives (ggf. unterstütztes) Wohnen, (ggf. unterstützte) Beschäftigung (Jobcoaching) auf dem 1. Arbeitsmarkt, gesellschaftliche Teilhabe)
•Peer Counseling (Betroffenen-Beratung, z. B. Autist*innen beraten Autist*innen)
Als richtungsweisend für ein zeitgemäßes Autismus-Verständnis können sieben von ASAN vertretene „autismustypische Merkmale“ betrachtet werden, die wir bereits in anderen Schriften mit vielen Beispielen aufgegriffen und ausführlich beschrieben haben (vgl. Theunissen 2020; Theunissen & Sagrauske 2019). Daher fassen wir uns im Folgenden kurz:
(1) Unterschiedliche sensorische Erfahrungen
Die Sinneswahrnehmung bei autistischen Personen weist oftmals eine Hyper- oder Hyposensibilität auf, wobei jeder Sinn betroffen sein kann (vgl. Kapitel II: sensorische Besonderheiten). Mögliche Reaktionen auf eine Reizüberflutung und -überlastung (Overload) kann beispielsweise das fluchtartige Verlassen der Situation, selbstverletzendes Verhalten, Panik, Schreien usw. sein. Gerade Einkaufszentren, Restaurants, öffentliche Verkehrsmittel − also Orte, an denen sich viele Menschen gleichzeitig aufhalten und viele Reize über verschiedene Sinneskanäle einströmen − können zur Belastung werden. Auf der anderen Seite können gesellschaftlich nicht anerkannte Verhaltensweisen wie das Beschnuppern von Gegenständen dazu dienen, Reize zu verstärken, um die Hyposensibilität zu kompensieren. Ebenso denkbar ist, dass mit dem Beschnuppern, Anfassen und unter die Nase halten von Dingen, die einem begegnen, „eine Brücke zur Wirklichkeit“ (Johansson 2019, 176) hergestellt wird, in der sich nicht-autistische Menschen befinden. Diese Brücke befördert „dann das Gefühl, dabei zu sein“ (ebd.).
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