Der Anruf, den Tina erhalten hatte, war von Pernille gekommen. Als Tina und ihre Tochter wieder im Krankenhaus ankamen, war Viggo Holm Petersen bereits für tot erklärt worden. Sie waren geschockt. Gegen 17, 18 Uhr war er noch wach gewesen. Tina, ihre Tochter und der Schwiegersohn hatten bei ihm gesessen. Der Sohn des Schwiegersohns hatte sich zu Viggo ins Bett gelegt, und Viggo hatte ihm mit dem Finger in den Bauch gepikt und ihn gekitzelt. Sie hatten beide gelacht. Viggo war immer ganz in seinem Element, wenn Kinder da waren. Und Tina hatte wieder diesen Funken in den Augen ihres Vaters bemerkt, der in den letzten Tagen schon erloschen war. Sie hatte Viggo zum Abschied einen Kuss gegeben und gesagt „Bis später“, weil die Pflegekräfte ihr gesagt hatten, dass zu diesem Zeitpunkt nichts darauf hindeutete, dass es dazu nicht mehr kommen würde.
Pernille konnte hören, wie die Tochter weinend zusammenbrach, als sie ihren Stiefvater von der Tür zu Zimmer 35 aus erblickte.
Die Ärztin erklärte Viggo um 20:30 Uhr für tot. Danach ging sie über den Flur in das Zimmer von Anna Lise und wiederholte den Vorgang. Vorhin, als Pernille Christina im Büro hatte sagen hören, dass die ältere Dame nicht mehr atmete, hatte sie Niels eine SMS geschickt.
„Jetzt haben wir den ersten Todesfall …“, hatte darin gestanden.
Um 21:00 Uhr ging auf dem Telefon des Arztes eine weitere Nachricht ein.
„Nummer 2. Und ich habe keinen Zweifel mehr.“
*
Pernille schloss sich im Medikamentenraum ein und rief Niels an. Als die elektrische Tür ins Schloss gefallen war und sie dort zwischen all den Ampullen und bunten Medikamentenschachteln stand, fiel sämtliche Professionalität von ihr ab. Sobald sie hören konnte, dass sie ihren Freund zu Hause erreicht hatte, brach sie zusammen. Und während sie in dem kleinen Lagerraum umherwanderte, wiederholte sie immer wieder:
„Sie war es, verdammt noch mal! Ich bin sicher, dass sie es war. Sie benutzt Stesolid, Niels. Verdammt, sie tut es wirklich.“
Der Freund versuchte, Pernille zu beruhigen. Und beschloss, von zu Hause aus die Kontrolle über die Situation zu übernehmen ‒ denn Pernille hatte sie vollständig verloren.
Niels’ Plan sah so aus: Sie sollte versuchen, die Schicht durchzustehen, ohne dass Christina bemerkte, dass sie durchschaut worden war. Und Pernille sollte versuchen, weitere Beweise zu finden. So, wie sie es bereits mit dem Infusionsbeutel und dem Foto gemacht hatte, das sie auf dem Telefon hatte. Niels würde am nächsten Morgen früh ins Krankenhaus kommen, und dort würde er Pernille in seinem Büro treffen und sich auf den neuesten Stand bringen lassen. Egal, was noch passierte, Pernille musste die Schicht durchhalten ‒ es war wichtig, dass sie das gemeinsam durchstanden und sich völlig sicher waren, bevor sie die Behörden einschalteten, betonte Niels.
Pernille spürte, dass ihr seine Worte halfen. Sie fühlte sich nicht mehr so allein in dem kleinen Raum. Und, was am wichtigsten war: Sie hörte Niels an, dass sich etwas verändert hatte. Zum ersten Mal konnte Pernille spüren, dass er ihr tatsächlich glaubte.
Ihr Gespräch wurde unterbrochen, als die Schiebetür aufging, weil eine Krankenschwester auf der anderen Seite der Tür ihren RFID-Schlüsselanhänger gescannt hatte. Es war Christina. Pernille hätte nicht vor ihr verbergen können, dass sie aufgewühlt war. Daher tat sie so, als würde sie über ihren Hund sprechen, dem es plötzlich schlecht ging. Mit den Worten: „Aber jetzt muss ich mal wieder an die Arbeit gehen“, beendete sie das Telefonat mit Niels.
Offenbar hatte Christina ihr die Ausrede abgekauft, dachte Pernille, als sie den Flur hinunterging. Sie konnten ihren Plan weiter verfolgen. Es dauerte nicht lange, bis der Herzalarm wieder ertönte. Er kam aus Zimmer 30 ‒ einem von Christinas Zimmern.
Der Patient Svend Aage Petersen war vor wenigen Minuten in Zimmer 30 gebracht worden.
Er litt an COPD und war in der Abteilung bereits bekannt. Doch heute war er wirklich ängstlich gewesen, als der Rettungsdienst ihn um kurz vor 23:00 Uhr auf der Bahre über den Flur schob. Der sechsundachtzigjährige Svend Aage hatte versucht, den Sanitätern zu erklären, dass er nicht ins Krankenhaus wollte. Doch es war gut, dass sie nicht auf ihn gehört hatten. Kurz nachdem Svend Aage umgebettet worden war, hatte er Probleme mit der Atmung bekommen.
Auf dem Zimmer nahm ihn Marlene in Empfang. Sie erkannte den Patienten wieder, obwohl sein Gesicht unter der Sauerstoffmaske, die man ihm im Krankenwagen aufgesetzt hatte, ganz grau geworden war. Marlene fand, Svend Aage müsse sofort von einem Arzt untersucht werden, auch wenn die Kollegen weiter oben im Gang ihn als einen ‚gelben Patienten‘ kategorisiert hatten. Also suchte Marlene einen Arzt, und dieser verschrieb Svend Aage Medikamente, die seinen Zustand hoffentlich verbessern würden.
Christina kam ins Zimmer und fragte, ob sie etwas tun könne. Sie half dabei, Svend Aage einige der vielen Kleiderschichten auszuziehen, die er angehabt hatte, als er mit seinem Rollator gestürzt war. Anschließend steuerte Marlene den Medikamentenraum an, um die vom Arzt verordneten Medikamente zu holen, während Christina im Zimmer blieb. Bevor Marlene hinausging, sagte Christina, es würde wahrscheinlich nicht lange dauern, bis man den Herzalarm auslösen müsse. ‚Sie hat recht‘, dachte Marlene, denn das war auch ihre Einschätzung. Kurz danach ging er los.
Wenn Ärzte und Pflegekräfte in der Notaufnahme im Krankenhaus eintreffen, schließen sie sich sofort an eine Art Batterie betriebene ‚Rettungsleine‘ an. Dafür befestigen sie eine kleine, graue, elektrische Plastikvorrichtung mit Display an ihrer Uniform, meist am Rand ihrer Hosentasche. Man nennt sie ‚Alarm‘ oder ‚Heuler‘.
Denn diese kleinen Geräte signalisieren den Pflegekräften mit zwei kurzen Pieptönen, wenn in einem Zimmer ein Patient Hilfe benötigt und an der Notfallschnur gezogen hat. Doch am wichtigsten ist der Heuler, wenn es zu einem Herzstillstand kommt.
Wird irgendwo in der Notaufnahme eine Person entdeckt, die in ihrem Bett liegt und nicht atmet, muss das Pflegepersonal einen roten Schalter an der Wand betätigen. Dann wird es nur noch Sekunden dauern, bis die Kollegen ins Zimmer stürmen. Durch Betätigung des Schalters werden überall im Krankenhaus die zuständigen Pflegekräfte und Ärzte über das Gerät mit einem hysterischen Piepen alarmiert, und diese laufen dann sofort zu dem Zimmer, dessen Nummer im Display steht. Denn es handelt sich um einen Herzalarm.
Ein Herzalarm löst keine laute Sirene auf der gesamten Station aus. Andere Patienten und Besucher nehmen die Notsituation daher erst wahr, wenn der Linoleumboden plötzlich von den vielen Paar Schuhen der Mitarbeiter widerhallt, die herbeieilen. Als Erstes treffen die Kollegen aus der benachbarten Abteilung ein. Und dann kommt ein spezielles Reanimationsteam, das im ganzen Krankenhaus unterwegs ist und sich bereithält. Es besteht aus Ärzten und manchmal Anästhesiepflegekräften, außerdem zwei Krankenträgern, die Betten verschieben und bei Bedarf auch die Herzdruckmassage übernehmen können. Das Team hat einen Defibrillator dabei – ein Gerät, das über Elektroden Stromstöße auf den Brustkorb gibt, die das Herz wieder in Gang setzen sollen. Sie haben Medikamente dabei, eine Maske, mit der sie Sauerstoff in die Lungen pressen können, sowie eine mechanische Reanimationshilfe, die bei der Herzdruckmassage unterstützt oder diese übernimmt, wenn die Arme der Helfer ermüden.
Jeder Handgriff sitzt, man möchte nichts dem Zufall überlassen. Trotzdem berichten einige aus diesen Teams, die schon „viele Heuler erlebt haben“, dass man sich wohl nie daran gewöhnt. Selbst wenn man schon Hunderte Herzalarme erlebt hat, kann die Situation schwierig und chaotisch sein, denn für die Person, die dort im Bett liegt, zählt jede Sekunde. Selbst erfahrene Teammitglieder können in so einer Situation eine akute Belastungsreaktion bekommen, heißt es. Doch es gibt auch diejenigen, die sich dabei anscheinend wohlfühlen.
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