Ob Marlon wohl zur Beisetzung seines Vaters oder sogar der des forensischen Psychiaters nach Deutschland reisen würde?
Björn wandte sich langsam um.
»Wie meinst du das?«
Tom zuckte mit den Schultern. »Seit seine Frau gestorben ist, hat er sich verändert. Zuletzt war er in Quantico – und seither ist er für niemanden mehr erreichbar. Sein Sohn lebt jetzt irgendwo in Amerika, Virginia. Er ist allein. Vielleicht bekommt ihm das nicht.«
»Ich habe auch versucht, ihn anzurufen. Und weder über Festnetz noch über Handy hatte ich Glück. Ich hielt das für eine seiner Marotten. Du weißt ja, wie er sein kann …«
»Diesmal ist es schlimmer. Ich habe ihn vor ein paar Tagen zufällig gesehen. Es geht ihm ganz sicher nicht gut.« Damit war für Tom das Thema beendet. Er konzentrierte sich wieder auf die Monitore. »Wie ist der Kerl reingekommen? Und war er wirklich allein? Kontrollen?«
Er warf dem Leiter des Sicherheitstrupps einen fragenden Blick zu.
»Stichprobenartig, würde ich sagen. Also nicht ständig jede Palette. Ist auch eher ein Problem, dass Waren verschwinden, nicht, dass zu viele kommen«, und schlug sich kraftvoll auf die Schenkel.
Als er merkte, wie unpassend das Lachen in der jetzigen Situation war, vertrocknete es in seinem Gesicht, blieb als gefrorene Grimasse zurück. »Lieferscheine und Papiere kontrollieren wir natürlich auch immer wieder«, schob er eilig nach. »Gerade so kurz vor Weihnachten sichern wir uns möglichst gut ab. Wir sind uns des Risikos bewusst, dass ein Terroranschlag auch den Blue Cube treffen könnte.«
Björn nickte, tippte eine Nummer auf dem Display an. Wartete. Seufzte dann, beendete den Kontaktversuch. Versuchte die aufsteigende Beunruhigung zu ignorieren.
»So! Also! Wie schaffen wir es, die Monitore auf Standby zu schalten, ohne dass er es merkt? Idee?«
»Ein Feuer!«
»Ja, das ist prima, dann kommt die Feuerwehr und es gibt jede Menge Action in den Gängen!«
Björn runzelte die Stirn. »Feuer geht nicht. Stellt euch vor, es kommt zu einer nennenswerten Rauchentwicklung. Dann wird er sehen, dass man den Qualm auf den Standbildern gut erkennen kann, während er vor seiner Tür längst abgezogen ist. Das klappt nicht. Aber Feuerwehr ist immer in solchen Lagen gar keine schlechte Idee. Wir inszenieren einen Fehlalarm, die Wehr rückt mit dem großen Besteck an. Er wird ahnen, dass das Ganze ein Fake ist, also muss es so realistisch wie möglich sein. Und ich brauche einen gut erzogenen Hund! Den lassen wir durch die Flure wetzen. Da, wo er verschwunden ist, gehen wir auf Standbild. Außerdem werde ich direkt vor der Glasfront des Biomarktes ein Spektakel … Mal sehen … Es ist schade, dass die Glassegmente von oben bis unten abgeklebt sind. So können wir tatsächlich von außen gar nichts erkennen.« Er sah sich schweigend im Raum um. »Wir sind uns alle im Klaren darüber, was es bedeutet, wenn der Mann allein agiert, oder?«
Schweigen.
»Einer allein kann nicht die ganze Zeit fast vierzig Menschen unter Kontrolle halten. Er wird müde, unkonzentriert. Ist vielleicht hochgradig nervös. Wenn er bemerkt, dass ihm die Sache entgleitet, wird er möglicherweise noch mehr Gewalt zur Einschüchterung einsetzen. Die Lebensgefahr für die Geiseln steigt.« Björn sprach eindringlich. »Alle müssen wissen, was sie zu tun haben. Fehler können wir uns nicht erlauben. Das Szenario mit der Feuerwehr wird minutiös geplant. Erst wenn wir auf den anderen Kameras Standbild haben, können wir unbemerkt mit unseren Maßnahmen beginnen. Wir müssen wissen, was da drin vor sich geht!«
Für einen Moment kehrten seine Gedanken erneut zu seiner Familie zurück.
Zeit für einen weiteren Anruf mit ausführlicher Erklärung der Lage und dem Versuch einer Rechtfertigung für seinen Einsatz dort blieb nicht.
Warum ging seine Frau nicht an ihr Handy? Sie hatten doch ausgemacht, er würde sich melden! Und sonst hielt sie ihr Smartphone auch immer griffbereit. Er versuchte es doch ein zweites Mal. Nichts. Genervt machte er sich daran, ihr eine WhatsApp zu schicken. Mürrisch tippte er auf Senden. Keine gute Lösung, das war ihm klar. Aber immerhin erklärte sie, warum er nicht erscheinen würde, enthielt das Versprechen, er würde sich sofort wieder melden, wenn die Angelegenheit hier geklärt war.
Hätte er gewusst, dass seine Familie kurz zuvor von einer anderen Message, die angeblich von Björn kam, ins Kino am Zoo geschickt wurde, hätte er sich Sorgen gemacht.
Zu Recht.
Aber davon wusste er ja nichts.
Bianca liegt auf dem Bauch.
Atmet möglichst flach.
Der Kerl hat eine Waffe – und den ersten Menschen aus ihrer Gruppe schon erschossen.
Seither ist es ziemlich still.
Sie hört nur das Atmen der anderen.
Der schwarzgekleidete Mann spricht nicht.
Gar nicht.
Dirigiert seine Geiseln mit Handzeichen, Stößen, Tritten. Emotionslos. Offensichtlich ist es ihm vollkommen gleichgültig, dass er Einzelnen heftige Schmerzen zugefügt hat.
Der alten Dame zum Beispiel.
Seit dem Tritt gegen ihren Kopf wimmert sie nur noch leise. Bianca kann sehen, wie Blut in ihre grauen Haare sickert.
Andere Geiseln hat der Vermummte genötigt, die mobilen Displays mit Waren aus dem Weg zu räumen, damit die Gänge frei werden. Alles wird verschoben. Ein Stuhl steht nun so, dass er alles überblicken kann, auch jede gefangene Person jederzeit mit nur einem Schuss treffen wird.
Alle sind voller Angst, einige stehen sicher unter Schock.
Wenn der Kerl doch wenigstens sagen würde, was er mit der ganzen Aktion bezweckt! Aber nein! Keine Silbe, kein Laut.
Die meisten liegen mit dem Gesicht nach unten. Ihr Atem lässt den Boden feucht werden, Speichel tropft über die geöffneten Lippen. Bianca ekelt sich vor sich selbst, dem Geruch, den sie verströmt.
Der Kerl hatte mit seinen Händen signalisiert, dass sie sich alle bäuchlings hinzulegen hätten.
Schnell.
Einige waren nicht so fix, waren gebrechlich, alt oder schlicht unbeweglich. Schafften es nicht schnell genug.
Wie die jüngere Frau im grünen Mantel und der weißen Bluse. Die ist nun tot.
Erstaunen in ihrem Gesicht.
Dann Fassungslosigkeit.
Zum Schluss Leere.
Der Kerl hat sie vor die Tür werfen lassen. Wie Müll.
Bianca würde gern auf die Uhr sehen. Traut sich aber nicht. Möchte die Bewegung nicht mit dem Leben bezahlen.
Julian.
Normalerweise schläft er um diese Zeit noch fest, versucht sie sich zu beruhigen und weiß, dass ihr Sohn sicher bald aufwachen wird. Und dann? Was wird er tun, wenn sie nicht kommt, um ihn aus dem Bett zu heben, anzuziehen, zu füttern? Was passiert, wenn er merkt, dass er in der Wohnung ganz allein ist? Ein eisiger Schreck zuckt durch ihren Körper, als sie versucht, sich daran zu erinnern, ob sie die Tür abgeschlossen hat. Je mehr ihre Gedanken um Julian kreisen, desto unruhiger wird sie. Lässt Revue passieren, was sie getan hat, bevor sie noch schnell zum Cube flitzen wollte.
Reisekasse.
Geld, das sie vom Haushaltsgeld abgezweigt und auf einem eigenen Konto »geparkt« hat.
Immer nur winzige Beträge.
Natürlich ohne Manuels Wissen.
Sie wollte nur schnell am Automaten … und nun hat sie ihren kleinen Julian dem Vater ausgeliefert.
Panik flutet ihren Körper, lässt ihn abwechselnd kalt und heiß werden.
Die Koffer! Sie stehen fertig gepackt im Flur. Parat für den Aufbruch in eine wunderbare Zukunft. Sollte Manuel vor ihr nach Hause kommen, wird er sie sofort sehen und wissen, was sie vorhatte. Und Julian wird seinem Papa dann hilflos ausgeliefert sein. Es kostet sie beinahe übermenschliche Kraft, den Schrei zu unterdrücken, der sich Bahn brechen will.
Das ist alles nur meine Schuld, erkennt Bianca glasklar. Den initialen Fehler habe ich schon vor Jahren begangen, danach war ich zu schwach für Korrekturversuche – und nun das! Jetzt überlasse ich auch noch meinen Julian dem brutalen, prügelnden Vater.
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