Mit ein bisschen Glück hört die Nachbarin Julians Weinen und hilft ihm, keimt Hoffnung in ihr auf. Doch dann fällt ihr ein, wie Manuel die Frau gestern zurechtgewiesen hatte, als sie bei ihnen klingelte – mitten in einer seiner Bestrafungsaktionen.
»Soll ich die Polizei verständigen?«, wollte sie von Bianca wissen, die zitternd im geöffneten Spalt der Tür stand und verzweifelt den Kopf schüttelte. »Man muss sich nicht alles gefallen lassen. Als Frau nicht und als Mutter schon gar nicht«, insistierte sie.
Manuel baute sich hinter ihr auf und beschimpfte die freundliche Nachbarin laut und unbeherrscht. Blockwartin, nannte er sie, meinte, sie hätte vor vielen Jahren eine steile Karriere als Spitzel machen können, heute jedoch gäbe es Privatsphäre!
Nun, Silvana würde wohl doch nicht wagen, noch einmal zu stören.
Zumal Bianca sich noch nicht entschuldigt hat. Sie hatte es vor, ja, es aber dann heute Morgen wieder vergessen. Und jetzt wäre es … Sie versucht, diese kreisenden Gedanken abzuschalten. Julian schläft. Manuel wird ihm nichts antun, wenn er vor ihr nach Hause kommt – er wird das Kind nicht anrühren! Und überhaupt, redet sie sich ein, die Sache hier wird schnell beendet, die Polizei ist sicher schon vor Ort. Im Fernsehen hat sie gesehen, dass das ganz einfach ist. Sie muss nur auf den roten Punkt warten, der das Ziel markiert, dann kommt der Schuss und sie gehen alle nach Hause. Kein Problem.
Doch ihre Angst ist nicht so leicht zu überzeugen. Sie speist sich aus den erinnerten Bildern. Und Bianca bleibt nur zu versuchen, nicht aufzufallen.
Zu ihrer Linken liegt ein Mann.
Weißhaarig, Zopf, schlank, feingliedrige Hände. Der starrt nur auf den Boden. Atmet ruhig.
Ganz bestimmt hat der nie in seinem Leben eine Frau geschlagen.
Er ist sicher ein verständnisvoller Mann.
Einer, der sein Leben im Griff hat.
Ihre Zuversicht wächst.
»Okay. Er kennt sich im Cube aus, weiß, wo die Kameras ihn erfassen können und wo nicht. Geschickt ist er ausgewichen, wo er nicht gesehen werden wollte. Erst als er seine Aktion tatsächlich startet, wird er für uns sichtbar. Möglicherweise hat er hier gearbeitet. Ich brauche eine Liste der Männer, die in den letzten Monaten entlassen wurden. Auch die der Praktikanten.« Björn klopfte mit den Fingern rhythmisch auf die Tischplatte. »In den Toiletten hat er nicht übernachtet, er ist nicht durch die Portale gekommen, hat sich nicht in der Bibliothek versteckt – der Lieferweg bleibt eine gute Option. Irgendwann ist er aus seinem Versteck gekrochen, von Kameras unbemerkt. Er schießt zielgenau und versiert. Habt ihr gesehen, wie gekonnt er den Rückstoß auffängt? Ohne jede Anstrengung. Er kalkuliert ihn beim Fokussieren des nächsten Ziels schon mit ein. Heer? Scharfschütze bei der Polizei? Einer von uns?«
Toms Handy klingelte leise. »Okay, ich hole ihn ab«, antwortete er und nickte Björn zu. »Sebastian ist da. Die Feuerwehr steht parat. Der Einsatzleiter kommt auch zu uns.« Er machte eine Pause, setzte dann hinzu: »Wir haben evakuiert – aber wir wissen alle …« Es war nicht notwendig, den Satz zu beenden.
»Hat sich jemand gemeldet, der einen Bekenneranruf bekommen hat? Taz?«
Allgemeines Kopfschütteln.
»Okay, dann planen wir den Feuerwehreinsatz. Ich werde versuchen, Kontakt zu ihm herzustellen. Wenn es etwas zu besprechen gibt, muss es uns gelingen, ihn zum Reden zu bringen. Friedemann ist genau der richtige Mann dafür. Und er ist unter den Geiseln. Hoffen wir, dass der Geiselnehmer nicht erkennt, wen er da gefangen hält.«
Björn begann zu zeichnen. Die Pläne vor sich auf dem Tisch, entwarf er ein mögliches Szenario, das ein Umschalten der Monitore ermöglichen könnte. »Neben dem Möhrchen, dem Bioladen, ist ein Dessousladen. Auf der anderen Seite ein Schreibwarenhandel. Die Zwischenwände? Beton. Trockenbau?«
Der Security-Team-Leiter schüttelte mit dem Kopf. »Oben ist ein Eiscafé. Da sind alle Wände Trockenbau. Dem kleinen Schlüsseldienst im Keller«, er zeigte auf den Plan, »der hier unter dem Schreibwarenladen liegt, habe ich geholfen, die Regale zu befestigen. Ich könnte also behaupten, dass zumindest die Wand wahrscheinlich Beton ist. Wohl eine tragende Wand. Dann zieht sie sich durchs ganze Gebäude hoch. Bei den Dessous wird ständig umdekoriert. Ein Teil der Wand ist womöglich eher Trockenbau. Aber ich weiß es nicht genau. Soll ich jemanden von der Haustechnik fragen? Die sollten es wissen, die müssen ja alle möglichen Reparaturen und Umbauten stemmen.«
Björn nickte. »Aber sofort!«
»Klar«, antwortet der Team-Leiter und wenige Sekunden später hörten sie den Mann telefonieren.
»Okay. Also im Dessousladen ist der mittlere Teil«, er deutete wieder auf den Plan, »also von hier bis hier, Trockenbau. Da war ursprünglich ein anderer Mieter vorgesehen, der beide Flächen nutzen wollte und deshalb dort eine Tür brauchte. War ziemlich aufwändig, das zu realisieren. Zusätzliche Stahlträger mussten eingezogen werden, Stützen an den Seiten. Leider ist der Mieter schon wieder weitergezogen. Leipziger Platz. Naja!«
Björn gab die Information an sein Team weiter. »Wenn es klappen soll, müssen wir von der Dessousseite kommen. Trockenbauwand ist für uns besser, weil das Anbringen der Sonden dann geräuschärmer funktioniert. Wie gehen wir vor? Können Sie einen Monitor nach dem anderen unauffällig auf Standbild schalten? Der Täter muss beobachten können, wie die Feuerwehrleute an dem Bioladen vorbei in diese Richtung laufen. Danach sieht er diesen Bereich nicht mehr live auf seinem Monitor.«
»Wir aber auch nicht«, mahnte einer der Wachmannschaft. »Wird dann ein völlig blinder Fleck.«
»Was ist, wenn unter den Geiseln Panik ausbricht, wenn wir Feueralarm auslösen?«, wollte der Leiter der Wachmannschaft wissen. »Die wissen ja nicht, dass es ein Fehlalarm ist. Eskaliert die Sache dann nicht?«
»Doch, das ist möglich«, räumte Björn ein. »Auf der anderen Seite versuchen wir ja eine Gesprächsbasis herzustellen. Klappt es, können wir die Geiseln darüber informieren, dass es kein Feuer gibt. Nachdem wir die Monitore umgestellt haben. Gib mir fünf Minuten. Ich bin sofort zurück. Ich muss Monika erklären, warum unser gemeinsamer Ausflug nun doch ausfällt.«
Johann sah dem breiten Rücken nach. »Hast du die Nummer von dem Bioladen? Wir brauchen eine Stimmprobe zum Vergleich für Sebastian.«
Der Wachmann nickte, begann langsam die Zahlenfolge vorzulesen.
Johann tippte mit.
Es klingelte.
Johann zählte automatisch, wusste, dass die Menschen, die der Mann in seiner Gewalt hatte, es ebenso tun würden. Es war eine Chance – ihre Chance. Nach dem zehnten Freizeichen legte er auf. Versuchte es sofort noch einmal.
Noch bevor der Klingelton zu hören war, kam Bewegung in das Bild auf dem Monitor, der die Tür »im Auge« behielt. Ein Arm in rosa Angorajacke stieß einen reglosen Körper ins Bild. Andere Arme halfen dabei.
Andermatt kehrte genau in diesem Moment zurück. Erkannte sofort, was passiert war.
»Scheiße!« Björns Faust ballte sich in der Hosentasche. »Leute hin zum Bergen. Hoffen wir, dass wenigstens dieses Opfer überlebt hat!«
Er drehte sich zu seinen Leuten um. »Ich habe ein Telefon klingeln hören. Hat jemand unten in der Möhre angerufen?«
Johann nickte, sah dann konzentriert auf die Spitzen seiner Turnschuhe.
Angespannt beobachteten sie wenig später, wie sich ein Rettungsteam vorsichtig der Person näherte, sie vom Boden auf die Trage hob und so schnell wie möglich abtransportierte.
Björn war sich bewusst, dass er diese Bilder mit dem Mörder teilte.
Die verbliebenen Geiseln wussten nun, wie gefährlich ihre Lage tatsächlich war.
Björns Handy klingelte. »Dr. Bernhard Wilde. Tut mir leid, wir konnten nichts mehr für das Opfer tun. Schuss direkt ins Herz, vor wenigen Minuten. Sie hat eine Kopfverletzung, stumpfe Gewalt. An der wäre sie allerdings wahrscheinlich nicht gestorben.«
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