5.3.1 Beurteilung des Schweregrades
Der Schweregrad von Auffälligkeiten und Normabweichungen kann beispielsweise auf einer Ordinalskala abgebildet werden, die Ausprägungen von Funktionalität/Dysfunktionalität oder Adaptivität/ Maladaptivität in eine Rangreihe bringt. Eine vierstufige Skala liegt z. B. mit der aus dem englischsprachigen Raum kommenden Unterscheidung von »adaptivity«, »pertuberance«, »disturbance« und »disorder« vor. »Disorder« ist dabei die Normabweichung mit dem höchsten Schweregrad; im klinischen Sprachgebrauch entspricht dies in der Regel einer »Störung«. In der ICD-10 (Dilling, Mombour & Schmidt, 1994) heißt es dazu: »Störung ist kein exakter Begriff. Seine Verwendung in dieser Klassifikation soll einen klinisch erkennbaren Komplex von Symptomen oder Verhaltensauffälligkeiten anzeigen, die immer auf der individuellen und oft auch auf der Gruppen- oder sozialen Ebene mit Belastung und mit Beeinträchtigung von Funktionen verbunden sind. Soziale Abweichungen oder soziale Konflikte allein, ohne persönliche Beeinträchtigungen sollten nicht als psychische Störung im hier definierten Sinne angesehen werden« (ebd., S. 23).
Der Begriff der psychischen Störung sollte auch bei Interaktionsbewertungen pathologischen Merkmalen oder Ausprägungen vorbehalten bleiben. Für Auffälligkeiten und Normabweichungen unterhalb dieses Niveaus müssen andere Bezeichnungen gefunden werden. Das National Center for Infants, Toddlers and Families (2000) hat dazu in der »Parental Infant Regulation Global Assessment Scale« (PIR-GAS) einen Vorschlag unterbreitet, aus dem Jacob und Wahlen (2006) eine vierstufige Ordinalskala mit den entsprechenden Bewertungstermini konstruierten: (1) adaptiv reguliert/funktional, (2) imbalanciert, (3) beeinträchtigt und (4) gestört. Hinführung und Ausprägung werden in der folgenden Tabelle dokumentiert. Ihre Nützlichkeit für die Beurteilung von Interaktionen sowie für deren Kommunikation mit Dritten stellten diese vier nach Schweregrad ordinalskalierten Bewertungen nicht nur in der Handhabung des Multiaxialen Klassifikationssystems (MAD-J) (Jacob & Wahlen, 2006) unter Beweis, sondern auch – wie bereits erwähnt – schon bei der Beurteilung von Interaktionsepisoden mit unterschiedlichen Instrumenten, wie z. B. dem EKIP.
Für die Praxis der Auswertung videografierter Episoden erweist es sich als hilfreich, den Film dreimal in unterschiedlicher Art und Weise zu betrachten. Das erste Mal sollte der Film als Ganzes angeschaut werden, um sich einen Gesamteindruck zu verschaffen. Empfehlenswert ist, sich im Anschluss Notizen zu machen, wie der Film im Unterschied zur Live-Beobachtung gewirkt hat. Der Vergleich zwischen dem unmittelbar Erlebten und den danach erfolgten Aufzeichnungen kann diagnostisch sehr aufschlussreich sein.
In einem zweiten Durchlauf werden – falls dies nicht durch das Auswertungsparadigma bereits festgelegt worden ist – fragestellungsbezogene Episoden von kurzer Dauer markiert. Dies umfasst sowohl erwartungskonforme Abschnitte als auch solche, die einen überraschenden Verlauf nahmen. Im Mittelpunkt dieser Auswahl sollte noch nicht die Kommunikation dieser Episoden mit den Familien stehen!
Im dritten Durchlauf schließlich werden die ausgewählten Episoden entsprechend der vorgegebenen Kriterien bewertet.
Tab. 5.3: Ordinalskala zur Beurteilung von Merkmalsausprägungen in der Interaktionsbeurteilung auf Basis der Parental-Infant-Regulation Global Assessment Scale (PIR-GAS) (zit. und leicht verändert nach Jacob & Wahlen, 2006, S. 203)
Nach diesen drei Durchgängen entwickelt die Diagnostikerin oder der Diagnostiker eine Art Mini-Drehbuch dessen, was er mit den beobachteten Personen besprechen möchte. Die Themen sollten auf Wesentliches reduziert und hierarchisiert werden. Hierzu sind die passenden Episoden auszuwählen und möglichst kurz zu halten; manchmal kann sogar ein Standbild ausreichend sein. Der Hinweis Mechthild Papoušeks, stets mit einer freundlichen Episode zu beginnen, hat sich über viele Jahre in der Praxis als erfolgversprechend erwiesen. Deshalb sollte zusätzlich zum bisher beschriebenen Vorgehen auch immer eine freundlich-warmherzige Episode oder wenigstens ein Standbild mit einem Lächeln ausgewählt werden, mit dem man die Auswertung beginnt. Mit guter Videobearbeitungssoftware können die ausgewählten Episoden auch untertitelt oder mit Überschriften versehen werden. Eine besonders wirksame Technik setzen z. B. die Beratenden der »Beratungsstelle vom Säugling zum Kleinkind« in Potsdam ein, die in ausgewählte Videosequenzen entwicklungspsychologisch prägnante Sätze schriftlich einfügen und diese so formulieren, als würde das Kind in direkter Rede zu den Eltern sprechen (nach einer persönlichen Mitteilung an den Autor).
Im familienrechtspsychologischen Kontext sind in der Regel die beobachteten Episoden selbst darzustellen, bevor Bewertungsprozesse in verallgemeinerter Form vorgenommen werden. Für die Beschreibung dieser Episoden erweist sich das Schema der Videointerventionstherapie (VIT) nach Downing (2009) (durch A. Jacob modifiziert und ergänzt,
Anlage 5) als sehr hilfreich. Es verhindert eine ausufernde, nur an der zeitlichen Abfolge ausgerichtete Beschreibung zahlreicher Details, indem es zu inhaltlichen Aspekten beschreibende Aussagen erlaubt, die den Lesenden trotz Vorstrukturierung das Nachvollziehen des Geschehens erlaubt. Anschließend können mit Hilfe der »Checkliste zu Konstrukten, Facetten und Indikatoren der Eltern-Kind-Interaktion« (
Anlage 1) ausgewählte Aspekte verallgemeinernd bewertet und zur Beantwortung der psychologischen Fragestellungen herangezogen werden.
Bei eher wissenschaftlichen Fragestellungen oder auch im Dauereinsatz (z. B. in Kliniken) kann es sinnvoll sein, die Videoauswertung computerbasiert zu unterstützen. »Mangold Interact« beispielsweise ist eine Software, die speziell der computergestützten Erfassung und Auswertung von Verhaltensbeobachtungen dient und sich für Live- und Videobeobachtungen gleichermaßen eignet. Zum einen ist mit diesem Computerprogramm die Registrierung von Verhaltensereignissen möglich – wie beispielsweise Interaktionen zwischen zwei oder mehreren Personen - zum anderen bietet »Mangold Interact« eine Reihe von unterschiedlichen Auswertungsoptionen (Mangold, 2021).
5.4 Kommunikation der Ergebnisse
Die Auswertung der Ergebnisse sollte in der Regel und insbesondere bei der Verwendung von diagnostischen Verfahren zu Begutachtungs- oder Indikationszwecken nicht im Beisein des Kindes erfolgen. Bei anderen Fragestellungen, z. B. der Videoauswertung im Rahmen bereits laufender Beratung, Therapie oder auch im Video-Hometraining, ist die Videoauswertung mit älteren Kindern (über 6 Jahren) sicherlich denkbar, hängt jedoch stark von einer positiven Beziehung der auswertenden Person zum Kind ab und bedarf in jedem Fall der Zustimmung der Eltern.
Die Besprechung der ausgewerteten Sachverhalte beginnt zunächst mit der Erläuterung des Ablaufs der Sitzung. Dabei kann bereits das erwähnte, freundlich stimmende Standbild auf dem Bildschirm erscheinen. Anschließend sollte danach gefragt werden, wie die an der Videoaufzeichnung beteiligten Personen die vorangegangene Untersuchung erlebt haben, wobei auch das Erleben des beteiligten Kindes explizit zu erfragen ist. Danach sollten - entsprechend des eigenen »Fahrplans« - die wichtigsten Ergebnisse, möglichst unterlegt mit einer Episode aus dem Film, besprochen werden. Nach jeder Sequenz ist es sinnvoll, die Probanden zu befragen, wie es ihnen mit der dargestellten Episode geht. Nicht immer scheint es ratsam – beispielsweise dann, wenn Beteiligte in einen hohen Erregungszustand geraten – alle geplanten Details auch anzusprechen, weshalb die wichtigsten Ergebnisse an erster oder zweiter Stelle platziert werden sollten.
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