Wie bereits erwähnt, gibt es hinsichtlich Setting und Verhalten verschiedene Varianten der Interaktionsbeobachtung, die auch miteinander kombinierbar sind. Zu unterscheiden sind beispielsweise die Verhaltensbeobachtung im natürlichen Kontext gegenüber der Verhaltensbeobachtung im Labor bzw. einem professionell eingerichteten Untersuchungsraum. Die Interaktion selbst kann mittels Interaktionsaufgaben inszeniert oder aber als durch die Beteiligten frei zu gestaltende Episode angelegt werden.
Die folgende
Tab. 5.1verdeutlicht diese Möglichkeiten, die in der Praxis allerdings nicht immer so klar unterschieden werden können oder sollten:
Tab. 5.1: Wahl der Instrumente nach Setting und Interaktionsverhalten
Der erhebliche Gewinn reliabler Bewertungen stellt den größten Vorzug einer stärker strukturierten und im professionell eingerichteten Raum stattfindenden Diagnostik dar. Als größter Nachteil ist sicherlich die erhebliche Befangenheit der beobachteten Personen, welche der ungewohnten Situation entspringt, zu erwähnen. Letztere führt bei den Eltern häufig zu Diskussionen, inwieweit die Beobachtungsergebnisse auch typisch und damit valide seien.
Der Abbau von Hemmungen kann durch nachvollziehbare Erläuterungen des diagnostischen Handelns und eine klare, wiederholte Instruktion unterstützt werden. Dem Argument der mangelnden Validität bei inszeniertem Vorgehen in nicht naturalistischer Umgebung lässt sich mit dem Hinweis begegnen, dass die Situation möglicherweise erst einmal verunsichernd wirkt, diese jedoch Beobachtungen hinsichtlich der Kompetenzen, das Kind und sich selbst zu beruhigen, ermöglicht. Darüber hinaus sollten die durch das diagnostische Vorgehen hervorgerufenen Ängste und Fragen (auch in Bezug auf die Vertraulichkeit) ernstgenommen sowie sachkundig und aufrichtig beantwortet werden (vgl. auch
Kap. 5.2sowie Morche in diesem Band
Kap. 8.2.2).
Falls die Reliabilität der Ergebnisse von erheblicher Bedeutung ist, empfiehlt es sich, zeitlich und inhaltlich strukturiert vorzugehen sowie einen – entsprechend der Fragestellung – speziell eingerichteten Raum mit ausgewählten Materialien zu nutzen. Marschak (und im deutschsprachigen Raum; Franke & Schulte-Hötzel, 2019) entwickelten hierfür die wohl ausgefeilteste Dramaturgie. Exemplarisch für andere Verfahren soll dies nachfolgend nun etwas ausführlicher dargestellt werden.
5.1.1 Hochstrukturierte Interaktionsepisoden nach Marschak
(
Tab. 4.6. zit. nach Franke & Schulte-Hötzel, 2019 sowie www.theraplay-institut.de):
Ein Elternteil (Mutter oder Vater) und das Kind setzen sich an einen Tisch – entweder um eine Ecke oder nebeneinander. Die beiden sollen bequem körperlichen Kontakt miteinander aufnehmen können. Bei Rechtshändern sollte das Kind rechts von der Mutter bzw. dem Vater, bei Linkshändern links von diesen sitzen. Im Raum befindet sich eine Videokamera zur Aufzeichnung der Interaktion. Eine Einwegscheibe, hinter der die Beobachtenden sitzen, ist eine hilfreiche, aber nicht notwendige technische Voraussetzung.
5.1.1.2 Die Spielaufgaben
Die Eltern werden gebeten, mit dem Kind vorgegebene (Spiel-)Aufgaben umzusetzen. Sie kennen die Aufgaben zuvor noch nicht. Dem Eltern-Kind-Paar wird ein Korb mit farbigen Plastikumschlägen gegeben. In jedem dieser Umschläge befindet sich eine Anweisungskarte für die jeweilige Aufgabe/das Spiel sowie Spielmaterial, sofern es für die Aufgabe erforderlich ist. Größere Materialien (z. B. Puppe, Bär, Hüte) befinden sich in Sicht- und Greifweite der Protagonisten. Die erwachsene Bezugsperson wird gebeten, die Umschläge Aufgabe für Aufgabe in der vorgegebenen Reihenfolge zu öffnen, die Anweisungskärtchen zu lesen und das Vorgegebene mit dem Kind zu spielen. Sie spielen ohne zeitliche Vorgaben. Ist das gemeinsame Spiel beendet, verlassen sie entweder den Raum von sich aus, oder die beobachtende Fachkraft betritt den Raum und verabschiedet das Paar. Natürlich können Mutter und Vater zu unterschiedlichen Zeitpunkten mit dem Kind getrennt voneinander videografiert werden.
5.1.1.3 Die elizierten Beobachtungsbereiche
Die Aufgaben der H-MIM sind so konzipiert, dass sie unterschiedliches, alltagsnahes Interaktionsverhalten hervorrufen. Die drei zu beobachtenden Bereiche, die sich als relevant für die Eltern-Kind-Beziehung herausgestellt haben, sind:
1. Emotionalität in der Interaktion,
2. Führung des Kindes durch die Bezugsperson,
3. Stress und der Umgang mit dem provozierten Stress.
Ausgewählt wird eine Reihe von Aufgaben aus dem vorhandenen Aufgabenpool - je nachdem, welcher Schwerpunkt für die Beobachtung gesetzt wurde.
Zur Diagnose der Emotionalität zwischen Kind und Bezugsperson lautet z. B. eine Aufforderung: Lassen Sie Ihr Kind auf Ihren Knien reiten! Oder: Singen Sie gemeinsam ein Lied!
Für den Bereich der Führung des Kindes existieren bspw. Aufgaben, wie: Diktieren Sie Ihrem Kind drei Sätze! Oder: Sagen Sie sich gegenseitig die Zukunft voraus!
Schließlich gibt es noch Aufgaben für den Bereich Stress und Umgang mit Stress, so z. B.: Machen Sie drei Runden »Armdrücken«! Oder: Gehen Sie fünf Minuten aus dem Raum und lassen Sie das Kind zurück!
Aber auch die nach Altersgruppen konkretisierten Lern- und Spielaufgaben bspw. der Mannheimer Beurteilungsskala (Esser & Scheven, 1989;
Tab. 4.9) gewährleisten eine gute Strukturbildung.
Wer die Beobachtungssituation weniger strukturiert, aber dennoch nicht vollkommen frei gestalten möchte, kann sich beispielsweise an folgendem Vorgehen orientieren.
5.1.2 Still-Face-Paradigma (SFP)
Für die weniger strukturierte Beobachtung bietet sich das Vorgehen nach dem Still-Face-Paradigma (Tronick et al., 1978 sowie 2009) an. Dabei wird der Elternteil aufgefordert, je nach Alter des Kindes zunächst fünf bis zehn Minuten frei mit dem Kind zu spielen, sich danach - auf ein Klopfzeichen hin - von diesem zu lösen und sich abwendend an einem Tisch im Spielraum mit etwas anderem zu beschäftigen. Abschließend wendet sich die Bezugsperson dem Kind erneut zu und nimmt das gemeinsame Spiel wieder auf, sodass es beiden Spaß bereitet. Die Dauer der drei Phasen kann und muss je nach Alter spezifiziert werden. Im ersten Lebensjahr wird die Situation praktisch oft so gestaltet, dass sich das Kind in einem Kindersitz auf einem Tisch und der Elternteil ihm frontal gegenüber befinden. Anstatt aus der Situation zu gehen, sollen die Eltern in der Trennungsepisode lediglich den Kopf vom Kind wegdrehen und auf Lautäußerungen verzichten (vgl. auch Domogolla, 2006 sowie
Kap. 7.3.1). Diagnostische Ziele sind sowohl die Erfassung der elterlichen und kindlichen Interaktionen während des Spiels als auch die Beobachtung des durch die Trennung aktivierten kindlichen Interaktionsverhaltens. Denn – so die Annahme – über das SFP wird das Kind seiner Interaktionsperson und damit auch der reziproken Kommunikation beraubt. Dies irritiere das Kind erheblich und habe zur Folge, dass das Kind in der Bewältigung des Konfliktes auf sich selbst zurückgeworfen wird. Das Kind erlebe dieses Geschehen in der Regel negativ, »weil es die reziproke Interaktion zur eigenen Emotionsregulierung brauche. Eltern helfen als wichtige Modulatoren bei der Regulation des kindlichen Verhaltens. Wenn nun aber der wechselseitige Austausch plötzlich unterbrochen werde, ändere sich auch der emotionale und physiologische Zustand des Kindes und es hat zugleich den Eindruck, damit allein fertig werden zu müssen. Seine Selbstregulationskompetenz werde dadurch aktiviert und zugleich der Beobachtung zugänglich gemacht« (Nabhan, 2015, S. 72; vgl. auch Tronic, 2005).
Читать дальше