Carmen Košorok Labhart, Dora Luginbühl, Angelika Schöllhorn
Von Eltern mit Migrationshintergrund lernen
Denkanstösse für die kultursensible Praxis
in Spielgruppe, Kita und Schule
ISBN Print: 978-3-0355-1900-6
ISBN E-Book: 978-3-0355-1901-3
Illustrationen: Ueli Halbheer
1. Auflage 2021
Alle Rechte vorbehalten
© 2021 hep Verlag AG, Bern
hep-verlag.ch
Einleitung
Eltern mit Migrationshintergrund in pädagogischen Institutionen der Schweiz
Das Forschungsprojekt
Fachpersonen als Vermittler*innen zwischen Familien mit Migrationshintergrund und Gesellschaft
Wie ist das Buch zu lesen?
Dank
Die Themenfelder
Angebote für Bildung und soziale Integration
Begleitung und Alltagskontakte
Bildungs- und Berufsziele
Biografische Erfahrungen der Eltern
Diskriminierung
Eintritte und Übergänge
Information
Sprache
Verantwortung für Bildungsentwicklung und soziale Integration
Verunsicherung versus Selbstwirksamkeit
Werte und Normen
Zugehörigkeit
Literatur
Einleitung
Eltern mit Migrationshintergrund in pädagogischen Institutionen der Schweiz
Mit etwa 25 Prozent Ausländern und 37 Prozent Bevölkerung mit Migrationshintergrund (BFS, 2021a) stellt die Gruppe der Zugewanderten in der Schweizer Gesamtbevölkerung einen beachtenswerten Anteil dar. In Zeiten anhaltender Migrationsbewegungen ist davon auszugehen, dass sich dies auf absehbare Zeit nicht verändert. Für die Gemeinwesen im Wandel stellt sich damit eine zentrale Aufgabe: das Zusammenleben aller gelingend und die Entwicklungsmöglichkeiten chancengerecht zu gestalten. Die Herausforderung besteht darin, sowohl die schweizstämmige Bevölkerung als auch die in erster, zweiter oder auch dritter Generation hier Lebenden in ihrer Diversität und mit ihren unterschiedlichen Kulturen in den Blick zu nehmen.
Innerhalb des Bevölkerungsanteils mit Migrationshintergrund gibt es viele Eltern mit Kindern. Sie sind damit auch eine grosse und bedeutsame Zielgruppe in pädagogischen Institutionen wie Spielgruppe, Kita, Familienzentren und Schule. Für die Kinder stellen sich die oben genannten Aufgaben insbesondere in Bezug auf ihre soziale Integration und Bildungsentwicklung. Damit das Zusammenleben gelingt und Entwicklungsmöglichkeiten genutzt werden, braucht es für sie bedürfnisgerechte Wege und Angebote. In der Realität zeigt sich jedoch, dass Kinder und Jugendliche aus Familien mit Migrationshintergrund in Bezug auf ihre soziale Integration und Bildungsentwicklung in der Schweiz nach wie vor benachteiligt sind (z. B. EKFF, 2008; SKBF, 2014; OECD, 2018). Die Ursachen werden kontrovers diskutiert. Neben der Verantwortung der Bildungsinstitutionen und allgemein benachteiligenden gesellschaftlichen Strukturen stehen vor allem die Unterstützungsmöglichkeiten der Eltern im Fokus (Ramsauer, 2011). Allerdings wurden bisher die Sichtweisen der Eltern selbst zu wenig erforscht und kaum beschrieben. Diese Lücke versucht das vorliegende Buch zu schliessen. Es stellt die Sichtweisen der Eltern in den Mittelpunkt und gibt damit für die Arbeit mit Familien mit Migrationshintergrund Anregungen zur Reflexion und Denkanstösse für die kultursensible Praxis.
Um den Dialog und die Zusammenarbeit zielführend entwickeln zu können, ist es hilfreich sich vor Augen zu führen, dass das kulturelle Umfeld, dem Menschen sich zugehörig fühlen, prägend für ihr Denken, Erleben und Verhalten ist. Es hat Auswirkungen auf die Erziehung und die Entwicklung von Kindern und auch Erwartungen an begleitende und unterstützende Institutionen werden dadurch beeinflusst (Borke et al., 2015). Die Entwicklung von Kindern vollzieht sich in den Beziehungen zu den relevanten Bezugspersonen und wird entscheidend von den Erfahrungen geprägt, die das Kind in diesem Beziehungsnetz macht. Der «gemeinsame Blick» von Eltern und Fachpersonen auf das Kind schafft bestmögliche Bedingungen für die Entwicklung von Kindern und setzt die gelingende Kooperation zwischen Eltern und Fachpersonen voraus. Dazu müssen beide Seiten über die Situation und Ausgangslage des jeweils anderen Bescheid wissen und sich über einen möglichen gemeinsamen Weg verständigen (Schöllhorn, 2015).
Dabei ist längst klargeworden, dass es «Eltern mit Migrationshintergrund» als einheitliche gesellschaftliche Gruppe nicht gibt, ebenso wenig wie eine einheitliche Gruppe von «schweizstämmigen Eltern». Differenzlinien sind sowohl bei der äusseren Dimension (z. B. Aufenthaltsdauer und -status, sozioökonomische Lebenslage), als auch in Bezug auf die innere Dimension (z. B. Ausbildung/Berufserfahrung, Art der Migrationserfahrung) und erst recht in Bezug auf die jeweiligen Persönlichkeiten (z. B. extrovertiert/introvertiert, traditionelle oder modernisierende Grundorientierung) auszumachen (vgl. Kappus & Kummer Wyss, 2015). Die vielfältigen ökologischen und ökonomischen Rahmenbedingungen, in denen Menschen leben, konfrontieren diese mit unterschiedlichen Herausforderungen zur Bewältigung ihrer Lebenssituation. Diese unterschiedlichen Kontextbedingungen werden auch in der Erziehung und Entwicklung von Kindern wirksam. Eltern haben das Ziel, ihre Kinder zu Menschen zu erziehen, die in der jeweiligen Lebensumwelt kompetent zurechtkommen. Daher werden Kinder auf eine spezifische Umgebung hin sozialisiert (Schöllhorn, 2015).
Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, Kulturfragen zunächst zurückzustellen und die Familien stattdessen in ihren individuellen Rahmenbedingungen, Herausforderungen und Ressourcen zu sehen. Unter Kulturen oder kulturellen Kontexten werden hier also Lebenswelten verstanden, in denen Menschen Werte, Normen und Einstellungen teilen und sich ähnlich verhalten (siehe z. B. Keller & Kärtner, 2013; Borke, Döge & Kärtner, 2011). Es geht darum, Familien in ihren individuellen Rahmenbedingungen und mit ihren Herausforderungen zu sehen.
Am Anfang der Entstehungsgeschichte dieses Buches stand ein Forschungsprojekt. Eltern mit Migrationshintergrund wurden als Experten zur sozialen Integration und Bildungsentwicklung ihrer Kinder in der Schweiz befragt. Dabei stellt sich die Frage, weshalb genau diese beiden Themen, «soziale Integration» und «Bildungsentwicklung», in den Fokus gerückt wurden.
Die gelingende soziale Integrationist für das Lernen und Wohlbefinden aller Kinder bedeutsam. Sie wird sogar als Grundbedürfnis von Menschen definiert (Deci & Ryan, 1993). Dies wird auch von der aktuellen Gehirnforschung gestützt. Gemeinschaftserleben, soziale Unterstützung oder Wertschätzung setzen demnach psychische Energie frei, die als Vertrauen und Wohlbefinden erlebt werden (Bauer, 2010). Weiterhin wird darauf hingewiesen, dass eine gelungene soziale Integration die grundlegende Basis für Motivation und Selbstwirksamkeit ist (ebd.). Ist dieses Grundbedürfnis nach sozialer Integration bedroht, sind Kinder und Jugendliche psychisch vor allem mit ihrem sozialen Status befasst und können sich weniger auf Lerninhalte konzentrieren. In diesem Zusammenhang zeigt beispielsweise eine Analyse der IGLU-Daten 2011 (Schulz-Heidorf & Schwippert, 2014) für den Schulkontext, dass der sozialen Integration im Klassenkontext eine besondere Bedeutung für die Selbstkonzeptentwicklung und die Leseleistungen der Schülerinnen und Schüler zukommt. Im Kontext von pädagogischen und Bildungsinstitutionen bedeutet soziale Integration für Kinder und Jugendliche daher, dass sie keinen Ausgrenzungsmechanismen ausgesetzt sind, die im Zusammenhang mit ihrer sozialen Herkunft, ihren Sprachfähigkeiten, ihrer äusseren Erscheinung oder ihrer Intelligenz und ihrem Verhalten stehen (vgl. Haeberlin, 1991).
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