1 ...6 7 8 10 11 12 ...46 Damit soll nicht etwa das Modell per se in Frage gestellt werden, sondern lediglich, daß unterschiedliche Sprachen unterschiedliche Varietätenräume haben, die je auf eine andere Art und Weise funktionieren. Es hat wohl durchaus seine Berechtigung, daß Söll einst seine begrifflichen Unterscheidungen am Französischen entwickelte, da in dieser Sprache der Abstand zwischen gesprochener und geschriebener Sprache enorm groß ist. Dies ist auf die starke Normierungsphase, die das Französische durchlief, zurückzuführen und die noch immer starke Präsenz einer präskriptiven Norm, die wohl auch dazu beitrug, daß sich ein dezidiertes Bewußtsein für Stilregister herausgebildet hat.43 Zudem hat sich das Französische – zumindest in Frankreich – zu einer Sprache mit sehr schwacher diatopischer Ausprägung entwickelt.44 Mit anderen Worten: Wenn eine Sprache in das Koch/Oesterreicher-Modell paßt, dann am ehesten das Französische. Die Konsequenz, die sich daraus ergibt, ist vor allem, daß man das Coseriu-Koch/Oesterreicher-Modell flexibler handhabt und nicht der Versuchung erliegt, alle „Leerstellen“ mit sprachlichen Merkmalen und Kategorien auffüllen zu müssen.
Das Problem der „Enge“ des Modells, und zwar schon des ursprünglichen bei Coseriu, wird genau an der besprochenen Schnittstelle zwischen Diaphasik und Diastratik virulent, wie sich in der umfangreichen Forschung zu varietätenlinguistischen Fragestellungen auf der Basis des Diasystems zeigt.45 Problematisch erscheint vor allem die Frage, wie die diastratische Ebene in modernen Gesellschaften zu verstehen ist, in denen es keine ausgeprägten Schichten mehr gibt, bei denen durch ein entsprechendes Standes- oder Klassenbewußstein auch die Art der sprachlichen Äußerung eben an diese Gesellschaftsschicht (lat. stratum ) gebunden ist. Andererseits sind die (post)modernen Gesellschaften nach wie vor in verschiedene Gruppen gegliedert, aber zum Teil eben in anderer Form, wobei stärker als zu früheren Zeiten ein Individuum oft an vielen verschiedenen sozialen (und sprachlichen) Gruppen partizipiert. Letztlich hat es sich in weiten Teilen der Forschung eingebürgert den Begriff ‚diastratisch‘ sowohl für bestimmte an Schichten gebundene Varietäten zu verwenden, als auch im Sinne von Gruppen-, Sonder- und Fachsprachen.46 Das mag unter Umständen vertretbar sein, wenn man eine Gesellschaftsschicht im Sinne einer großen Gruppe interpretiert, aber wirklich schlüssig ist diese Vermengung von Ebenen nicht. Hinzu kommt, daß innerhalb von einzelnen Gruppensprachen – zu bestimmen nach Parametern wie Alter, Geschlecht, Beruf etc. – wiederum eine große Heterogenität festzustellen ist.47
Der Versuch, diese im Zuge weiterer Forschung vermehrt in den Fokus geratenen Bereiche gruppensprachlich bedingter Kommunikation zu klassifizieren, mündete vor allem in der Romanistik in eine Explosion der dia -Begrifflichkeiten. Eine erste Erweiterung erfuhr dabei das Coseriu’sche Dreierschema durch die Auseinandersetzung mit der metalexikographischen Forschung (cf. Hausmann 1977, 1989) und wurde bis hin zu einer extremen Ausprägung bei Schmidt-Radefeldt (1999)48 oder Thun (2000) betrieben. Die Blickweise schwankt letztendlich zwischen einer Gleichberechtigung aller neu konzipierten dia -Ebenen und der Unterordnung aller neuen unter das Dach der Diastratik. In beiden Fälle stößt das zunächst kompakte Modell – das ja auch schon von Anfang an umstritten war – an die Grenzen seiner Belastbarkeit.49
Vergessen wird dabei oft, daß die Qualität der einzelnen Varietäten bzw. Ebenen im Modell sehr heterogen ist und letztlich nur die diatopische Ebene den Anspruch erheben kann, ein vollwertiges in sich geschlossenes Sprachsystem zu sein, wie bereits Coseriu konstatierte (cf. Coseriu 1988:51).
In allen anderen Fällen stellt sich die unweigerlich die Frage: wieviel Variation ist nötig, um von einer Varietät sprechen zu können? Oder anders ausgedrückt: wieviele sprachliche Merkmale, im Sinne der Abweichung von einer Norm, sind nötig,50 damit man sinnvollerweise annehmen kann, daß hierbei eine eigene Varietät vorliegt?51
Die Frage läßt sich nicht so ohne weiteres beantworten, auch deshalb nicht, weil es nicht nur auf die Anzahl der Charakteristika ankommt, die konstitutiv für eine Varietät sein sollen, sondern auch auf die Verankerung einer solchen im Sprecherbewußtsein.52 Unter Umständen reicht ein einziges Merkmal im Sinne eines Schibboleths, wie beispielsweise ein uvularer Vibrant oder Frikativ [ʀ, ʁ], bereits aus, um einen Italophonen regiolektal zu verorten, weil es sich um ein salientes Merkmal einer bestimmten Region handelt (wenn auch nicht ausschließlich)53 – oder eine jede noch so geringe diatopisch markierte Veränderung vom entdialektalisierten Pariser Becken erweist sich bereits als äußerst auffällig.54 Hingegen sind Merkmale, wie sie Endruschat/Schmidt-Radefeldt (2008:222–226) unter dianormativ oder diaplanerisch aufführen, nicht als eigentliche Varietät zu verstehen, sondern Teil der Sprachpolitik oder eines historischen Normierungsprozesses und das, was sie unter diaevaluative Varietät subsumieren, Teil eines Stilregisters, genauso wie unter Umständen Elemente der als diafrequent bezeichneten Dimension.55
Es sei hier tabellarisch noch einmal die Vielfalt der heutzutage existierenden dia -Begriffe zusammengestellt und dabei gleichzeitig die Frage gestellt, wie sinnvoll diese dia -Proliferation sein kann?
Coseriu (1958) |
Koch/Oesterreicher (1990) |
Hausmann (1979, 1989) |
Schmidt-Radefeldt (1999) |
Thun (2000) |
diatopisch |
diatopisch |
diatopisch |
diatopisch |
diatopisch |
diastratisch |
diastratisch |
diastratisch |
diastratisch |
diastratisch |
diaphasisch |
diaphasisch |
diaphasisch |
diasexuell |
diasexuell |
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Nähe-Distanz (diamesisch) |
diamedial |
diagenerationell |
diagenerationell |
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diaevaluativ |
diaphasisch |
diaphasisch |
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diatextuell |
diamedial |
dialingual |
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diakonnotativ |
diakonzeptionell |
diatopisch-kinetisch |
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dianormativ |
diatechnisch |
diareferentiell |
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diaintegrativ |
diasituativ |
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diatechnisch |
diatextuell |
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diafrequent |
diaevaluativ |
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diachronisch |
diafrequentativ |
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diaintegrativ |
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dianormativ |
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diaplanerisch |
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Abb. 1: Übersicht zu den dia-Begriffen
Für eine Beurteilung der hier dargestellten Begrifflichkeiten, auch im Hinblick auf die geplante Analyse in vorliegender Arbeit stellt sich zunächst die Frage cui bono ?
Wenn Hausmann (1979, 1989) anknüpfend an die zu dieser Zeit bereits bestehenden Termini weitere prägt,56 um im Sinne einer lexikographischen Beschreibung die Struktur des in Wörterbüchern dargestellten Lexikons besser zu erfassen zu können, so ist das legitim und sinnvoll, wobei jedoch nicht vergessen werden darf, daß es sich dabei um einen anderen Beschreibungsrahmen als den von Coseriu intendierten handelt (cf. dazu auch explizit Schöntag 1998/2009:164).57 Das gleiche gilt mutatis mutandis für eine Beschreibung im Zuge der sprachgeographischen Erfassung von Unterschieden, wie sie Thun (2000:4–5) in seiner pluridimensionalen Dialektologie vornimmt.58 Problematisch wird es nur, wenn wie bei Endruschat/Schmidt-Radefeldt (2008) man einerseits weitgehend im ursprünglichen Varietätenmodell von Coseriu bleibt, also auf die Erfassung der Heterogenität der historischen Einzelsprache an sich abzielt, aber dann den Beschreibungsapparat womöglich überdehnt und damit auch den Unterschied von Varianz (bzw. Varianten) und Varietät verwischt.
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