Das unbestreitbare Verdienst des in zahlreichen Publikationen immer wieder mit neuen Nuancen bedachten Modells von Koch/Oesterreicher liegt sicherlich darin, wichtige Aspekte und Bedingungen im komplexen Gefüge von mündlicher und schriftlicher Kommunikation sichtbar und faßbarer gemacht zu haben. Dazu gehört vor allem die konsequente Weiterentwicklung der Söll’schen Dichotomie von Medium vs. Konzeption und die Etablierung des Nähe-Distanz-Kontinuums mit den sie konstituierenden Parametern sowie die Entwicklung des Konzeptes der Diskurstraditionen. Obwohl prinzipiell zunächst zur Erfassung des aktuellen synchronen Varietätenraums einer Sprache konzipiert, eignet sich das Modell auch zur Erfassung von historischen Sprachsituationen.34 Dabei kommt neben den Diskurstraditionen auch den im Rahmen ihrer Theorie entwickelten Begrifflichkeiten zur Kennzeichnung der Transferprozesse eine wichtige Bedeutung zu. So wird strikt zwischen der medialen Verschriftung (phonisch → graphisch) bzw. Verlautlichung (graphisch → phonisch) und der konzeptionellen Verschriftlichung (gesprochen → geschrieben) bzw. Vermündlichung (geschrieben → gesprochen) unterschieden, wobei der konzeptionelle Bereich als Kontinuum zu verstehen ist (cf. Oesterreicher 1993:271–272; Koch/Oesterreicher 1993:587; 2001:587).35
Das Koch/Oesterreicher-Modell mit all den hier geschilderten Facetten ist im weiteren einerseits auf große Akzeptanz gestoßen und wurde immer wieder rezipiert,36 andererseits gab es im Zuge dieser vertieften Auseinandersetzung mit dieser Theorie auch zahlreiche kritische Hinweise auf inhärente Probleme. Kabatek (2003:203–204), Schöntag (2014:512–519) und Krefeld (2015a:265–268) fassen einige der wichtigsten Kritikpunkte zusammen, wobei der Hauptaspekt die Streitfrage ist, ob es zwingend notwendig ist, den unmarkierten Nähe/Distanz-Bereich als eine vierte Dimension zu eröffnen.37 Wie bei Kabatek zurecht vermerkt, gerät dabei die Bedeutung des medialen Aspektes, z.B. bei der Herausbildung einer Distanzsprache in einer Schriftkultur, ins Hintertreffen und vor allem ist es ganz prinzipiell kontrovers, ob diese – diamesischen Unterschiede, wie es Mioni (1983:508–509) ohne die Differenzierung von Konzeption und Medium nennt – nicht Teil der Diaphasik sind.38 In der Kritik stehen auch die Überschneidung von Diaphasik und Diastatik, die Varietätenkette bzw. ihre Unidirektionalität sowie die Vermischung von universalen und einzelsprachlichen Kriterien.39
Merkwürdig allein in der Graphik zum Varietätenraum erscheint m.E. aber auch, daß hier eine wohl eher nicht beabsichtigte Affinität von ‚Nähe‘ und ‚niedrig‘ suggeriert wird, denn im Zuge der Darstellung des Kontinuums innerhalb der einzelnen Ebenen (diatopisch stark/schwach, diastratisch niedrig/hoch, diaphasisch niedrig/hoch) wird explizit die linke Seite des gesamten Spektrums als ‚gesprochene Sprache‘ im weiteren Sinne gefaßt (cf. Koch/Oesterreicher 2011:17). Unzweifelhaft ist es jedoch möglich ein stilistisch als eher ‚hoch‘ einzuordnendes Gespräch/Rede noch dem Bereich der konzeptionellen Mündlichkeit und damit der Nähesprache zuzurechnen – man kann sich durchaus elaboriert ausdrücken (z.B. im Rahmen eines Seminars) und trotzdem sind Merkmale wie Hesitationen, Anakoluthe etc. zu registrieren.
Eine damit verknüpfte Fragestellung ist die der Verankerung der Standard- oder Normvarietät einer Sprache in diesem Modell oder neutraler formuliert die Referenzvarietät.40 Wie Dufter (2018:67–69) zu Recht festestellt ist es nicht unproblematisch, die üblicherweise als diatopisch ,neutral/unmarkiert‘, diastratisch ,höhere Gesellschaftsschicht‘, diaphasisch ‚höheres Register‘ verstandene variété zéro (ibid. 2018:67) eindeutig zu verorten, zumal wenn es sich um nicht-standardisierte Sprachen – das sind die meisten der Welt – oder plurizentrische Sprachen handelt.
Weitere Probleme des Modells ergeben sich vor allem im Bereich der konkreten Anwendung wie am empirischen Teil von Koch/Oesterreicher (2011) selbst deutlich wird.
So beginnt das Kapitel zur Italienischen Nähesprache im weiteren Sinne , in welchem diastratische und diaphasische Merkmale zusammen untersucht werden, mit einer Apologetik:
Dass wir diese Mittelzone im folgenden Abschnitt zusammenfassen, heißt nicht, dass wir den bedeutsamen Unterschied zwischen der diastratischen und der diaphasischen Varietätendimension verwischen wollen. (Koch/Oesterreicher 2011:208)
Dies mag theoretisch glaubhaft und begründet sein, aber die weiteren Ausführungen zu den einzelnen Stilregistern (Diaphasik) und den einzelnen schichtengebundenen Varietäten (Diastratik) zeigen, genauso wie die angesprochenen einzelnen Merkmale, daß die Unterscheidung tatsächlich nicht ohne weiteres aufrechtzuerhalten ist. Exemplifizieren läßt sich das an der Behandlung des italiano popolare , welches sie als eine genuin diastratische Varietät (ibid. 2011:208) bezeichnen, und zwar im Gegensatz zum français populaire , welches strikt diaphasisch wäre. Dann sind sie jedoch gezwungen zu konstatieren, daß es generell im Italienischen keine lautlichen Merkmale gibt, die „genuin diastratisch oder diaphasisch markiert“ (ibid. 2011:2009) wären. Im Bereich der Morphosyntax wiederum gäbe es wiederum „praktisch keine morphosyntaktischen Erscheinungen, die genuin diaphasisch niedrig markiert sind“ (ibid. 2011:210). Zwischenresümee wäre dann, daß in der Lautung aus diastratischer und diaphasischer Perspektive keine Merkmale vorhanden sind (nur sekundäre aus der Diatopik) und in der Morphosyntax nur diastratische, also solche des italiano popolare . Was die Lexik anbelangt, so ist die Diastratik hier im Prinzip auf Gruppensprachen beschränkt ( gerghi ) (ibid. 2011:211), es sind also keine bzw. kaum Merkmale festzustellen, die dem italiano popolare im Sinne einer schichtenspezifischen Sprache zuzurechnen wären. Aus ihrer eigenen Argumentation, nach der ja prinzipiell Phänomene von der diastratischen Dimension in die diaphasische aufrücken können, wäre an dieser Stelle doch eigentlich die Schlußfolgerung nötig, daß das italiano popolare im Italienischen, offensichtlich auch auf der diaphasischen Ebene funktioniert.41 Zudem wird offensichtlich, daß beide Dimensionen, zumindest für das Italienische, kaum zu trennen sind, sonst gäbe es zahlreichere und salientere Unterscheidungsmerkmale. Weiterhin wird ebenfalls deutlich, daß innerhalb der Diastratik – von Gruppensprachen abgesehen – keine weiteren Schichten des Substandards faßbar sind und in der Diaphasik die verwendeten Begrifflichkeiten kaum zuzuordnen sind, wie sie selbst eingestehen.42
Was die Italienische Nähesprache im engeren Sinne anbelangt, d.h. die Dimension der unmarkierten Mündlichkeit, so konzentrieren sich die herausgefilterten Merkmale im Wesentlichen auf die Morphosyntax (ibid. 2011:213). Gerade bei so manchem der hier aufgelisteten sprachlichen Charakteristika stellt sich jedoch unweigerlich die bereits von zahlreichen Kritikern angesprochene Frage, ob dies nicht doch eher eine Frage des Registers ist. Betrachtet man beispielsweise das System der Demonstrativa, in dem zwischen dem dreistufigen im Schriftlichen und dem zweistufigen im Mündlichen unterschieden wird, so ist zumindest zu bezweifeln, ob das Modell der präskriptiven Norm in konzeptionell und medial schriftlichen Texten noch durchgehalten wird. Über aller Differenzierung schwebt zudem im Italienischen immer die Frage nach der diatopischen Prägung, was eine Einordnung in die Dimensionen der Diastratik/Diaphasik und erst recht in die vierte der Unmarkiertheit erheblich erschwert. Koch/Oesterreicher (2011:213–214) gestehen für die Nähesprache im engeren Sinne ein, daß aufgrund der diatopischen Implikationen für das Italienische hier keine Aussage für den lautlichen Bereich getroffen werden kann, woran sich jedoch unweigerlich die Frage anschließt, wieso dies dann ohne weiteres für andere Bereiche möglich sei.
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