Von den auf Schuchardt folgenden Generationen von Romanisten und Wissenschaftlern anderer Fachdisziplinen, die sich der weiteren Untersuchung des Vulgärlateins gewidmet haben, sollen hier im vorliegenden Rahmen nur selektiv einige wenige mit ihren Werken genannt werden; für eine ausführlichere Zusammenstellung sei auf die einschlägigen forschungsgeschichtlichen Synopsen verwiesen (cf. z.B. Reichenkron 1965:1–4; Herman 2003; Kiesler 2006:3–13). Neben den bereits erwähnten latinistischen Arbeiten, von denen vor allem Hofmann mit seiner Lateinischen Umgangssprache (1926) hervorsticht, da dieses Œuvre mehrfach neu aufgelegt und in weitere Sprachen übersetzt wurde (Spanisch, Italienisch), aber auch seinen Widerhall in der einschlägigen Grammatik von Leumann/Hofmann (1928) findet, sind folgende monographische Meilensteine der vulgärlateinischen Forschung zu nennen: Grandgent (1907), An Introduction to Vulgar Latin ; Muller (1929), A Chronology of Vulgar Latin ; Battisti (1949), Avviamento allo studio del latino volgare ; Voßler (1953), Einführung ins Vulgärlatein ; Coseriu (1954), El llamado ‚latin vulgar‘ y las primeras diferenciaciones romances ;268 Silva Neto (1957), História do latim vulgar ; Löfstedt (1959), Late Latin ; Väänänen ( 11963, 42002), Introduction au latin vulgaire ; Sofer (1963), Zur Problematik des Vulgärlateins ; Herman (1967), Le latin vulgaire .269
Hinzu kommen Sammlungen mit Belegstellen bzw. wichtigen vulgärlateinischen Texten wie beispielsweise Rohlfs (1951), Sermo vulgaris latinus , Iliescu/Slusanski (1991), Du latin aux langues romanes oder Kramer (1976), Literarische Quellen zur Aussprache des Vulgärlateins und Kramer (2007), Vulgärlateinische Alltagsdokumente , aber auch spezifische Grammatiken wie Maurer (1959), Gramática do latim vulgar oder Reichenkron (1965), Historische latein-altromanische Grammatik .270 Weiterhin sind Darstellungen, die sich auf den Übergang vom Lateinischen zum Romanischen spezialisiert haben, zu erwähnen, wie z.B. Stefenelli (1992), Das Schicksal des lateinischen Wortschatzes in den romanischen Sprachen , Herman (1990), Du latin aux langues romanes , Zamboni (2000), Dell’italiano. Dinamiche e tipologie della transizione dal latino , Euler (2005), Vom Vulgärlatein zu den romanischen Einzelsprachen , Herman (2006), Du latin aux langues romanes II , Coseriu (2008), Latein-Romanisch oder schließlich Wright (1982), Late Latin and early Romance in Spain and Carolingian France , der mit seiner These zum Wechsel zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der spätlateinischen und frühromanischen Phase für Aufsehen sorgte.
Die aktuelle Forschung äußert sich vor allem in zahlreichen, verstreut publizierten Aufsätzen, wofür stellvertretend hier jedoch die wichtigen Sammelbände zu den Tagungen des Vulgär- und Spätlateins ( latin vulgaire – latin tardif ) angeführt seien: Herman (1987), Calboli (1990), Iliescu/Marxgut (1992), Callebat (1995), Petersmann/Kettemann (1999), Solin/Leiwo/Halla-Aho (2003), Arias Abellán (2006), Wright (2008), Biville (2012), Molinelli/Cuzzolin/Fedriani (2014). Die aktuelle Forschung aus Sicht der Romanistik spiegelt sich vor allem in den einschlägigen Artikeln des Lexikons der Romanistischen Linguistik , des Handbuchs zur Geschichte der romanischen Sprachen und den neu erscheinenden Manuals of Romance Linguistics .271
Durch die zunehmende Beschäftigung mit dem Sujet ‚Vulgärlatein‘ ergab sich auch eine Aufsplitterung des Begriffsinhaltes, so daß man sich heutzutage einer Vielzahl von Interpretationen gegenübersieht, was darunter genau zu verstehen sei. Auch wenn Kernelemente der Definition von Schuchardt bestehen bleiben, so ist die Frage, welcher Sprachzustand zu welcher Zeit damit bezeichnet werden soll, relativ umstritten, so daß sich hinter der Begriffsverwendung in einer aktuellen Publikation tendenziell immer zahlreiche Forschungsmeinungen verbergen können und der gemeinsame Nenner einer communis opinio sich denkbar klein ausnimmt, was nicht ganz unproblematisch im Sinne einer für alle praktikablen Begrifflichkeit ist.
Es seien im Folgenden nun einige voneinander abweichende Positionen herausgegriffen, um diese Diskrepanz deutlich werden zu lassen:
Das Vulgärlatein ist das gesprochene Latein. Es könnte auch Romanisch heißen. Die einzelnen rom. Sprachen sind nicht die Töchter des Vlt., sondern selbst Vlt., d.h. seine Spielart. Sie sind das Latein von heute. […]
Vlt. hat es zu allen Zeiten gegeben. Auch ist das Vlt. nicht ohne weiteres als die Sprache der niederen Klassen anzusehen und das Schriftlatein nicht ohne weiteres als die Sprache der Gebildeten. Im täglichen Verkehr haben sich zweifellos auch die Gebildeten nicht in kunstvollen Perioden ausgedrückt. Freilich mag die Sprache der Gebildeten nicht ganz dieselbe gewesen sein wie die des niederen Volkes. Zwischen dem höchsten und kunstmäßigsten Latein und dem rohesten Vulgärlatein gab es eine Masse von Mittelstufen – wie es deren auch heute gibt. […]
Der größte Teil der gesprochenen lat. Alltagsrede ist verhallt, für immer verhallt und verschollen. Man muß sich die Quellen für die Kenntnis des Vlt. erst mühsam zusammensuchen. (Voßler 1922:48–49; Hervorhebungen im Original)
Für Voßler ist ‚Vulgärlatein‘ demgemäß gleichzusetzen mit der gesprochenen Sprache, und zwar vor allem auch in konzeptioneller Hinsicht. Diese ist dabei zeitlich nicht limitiert bzw. an eine bestimmte Sprachstufe gebunden, also nicht etwa auf die spätlateinische Phase beschränkt, wie er eigens betont (cf. Voßler 1922:49). Er sieht das Vulgärlateinische als diastratisch nicht strikt an eine Sprecherschicht gebunden und betont das diaphasisch-diastratische Kontinuum. Mit der begrifflichen direkten Gleichsetzung von Vulgärlatein und Romanisch (cf. Zitat supra) ist implizit auch die diatopische Variation des Vulgärlateins postuliert. Das konzeptionell und gesprochene Latein ist schließlich nur in Ausnahmen in medial schriftlichen Kontexten zu finden, und zwar „aus dem einfachen Grunde, weil man sich in der Schrift immer oder meistens eines grammatisch und stilistisch gereinigten, eines mehr oder weniger klassischen Lateins bediente“ (Voßler 1922:49).
Ebenfalls den Aspekt der Mündlichkeit betont Battisti (1949) in seiner Definition, grenzt die Epoche, in der das Vulgärlatein sich äußert, jedoch relativ deutlich ein:
Intendiamo con questa voce non una fase dialettale, ma la lingua normalmente parlata nel mondo latino dalla maggioranza della classe media nei due ultimi secoli della repubblica e nell’impero […]. (Battisti 1949:23)
Battisti verankert demgemäß das Vulgärlatein zwischen ca. 200 v. Chr. (die letzten zwei Jahrhunderte der römischen Republik) und 476 n. Chr. (Ende des römischen Kaiserreiches im Westen). Auffallend ist weiterhin die eindeutige diastratische Verankerung des Vulgärlateins, welches er als Sprache der classe media , also der Mittelschicht festmacht.272
Eine Definition mit einer anderen Schwerpunktsetzung findet sich bei Väänänen (2002), der auch eine deutlich divergierende zeitliche Eingrenzung vornimmt:
Le latin vulgaire au contraire, tel que nous le concevons, comprend les états successifs depuis la fixation du latin commun, à l’issue de la période archaïque, jusqu’à la veille des premières consignations par écrit de textes en langue romane; il n’exclut ni les variations sociales, ni même régionales. (Väänänen 2002:6)
Wichtig in dieser Bestimmung des Vulgärlateins ist zum einen die Betonung der Variationsbreite, und zwar wie schon bei Voßler nicht nur in Bezug auf die Diastratik, sondern auch hinsichtlich der Diatopik, und zum anderen die chronologische Verortung. Der Beginn des Vulgärlateins hängt mit der sich etablierenden Schriftsprache bzw. deren Kodifizierung zusammen, so daß man Väänänen hier so interpretieren kann, daß dies mit der ersten literarischen Produktion ab 240 v. Chr. zusammenfällt (cf. Kap. 4). Das Ende setzt er mit dem Aufkommen der ersten romanischen Texte gleich, so daß dies ins 9. Jh. zu datieren wäre (cf. Straßburger Eide 842). Dies ist – wie im weiteren noch zu sehen sein wird – eine chronologisch sehr weite Fassung der Epoche, in welcher das Vulgärlatein greifbar ist, insbesondere hinsichtlich des zeitlichen Endpunktes.273
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