Wenn man sich nun – wie hier vorgesehen – mit den Vorstellungswelten der Frühen Neuzeit und deren Begrifflichkeiten auseinandersetzt, so ist es für ein präzises Erfassen der damaligen Erkenntnisse durchaus sinnvoll, sich mit den Kerntermini auch im modernen Verständnis zu beschäftigen bzw. sich ihrer Problematik zu vergegenwärtigen. Dies wurde bereits für die varietäten- und soziolinguistischen Begriffe geleistet (cf. Kap 3.1), gilt aber umso mehr für den äußerst umstrittenen Begriff ‚Vulgärlatein‘ (frz. latin vulgaire , it. latino volgare ).
Die moderne sprachwissenschaftliche Forschung beginnt nach allgemeinem Verständnis in der Romanistik mit Friedrich Diez, der in diesem Kontext von ‚Volksmundart‘, ‚volksmäßigen Latein‘ und schließlich von ‚Volkslatein‘ spricht.259
Für den entscheidenden Anstoß in der Forschung zu diesem Thema und in Bezug auf die Verbreitung des Begriffes sorgte hingegen Hugo Schuchardt mit seinem mehrbändigen Werk Der Vokalismus des Vulgärlateins (1866–1868). Bereits kurz zuvor gab es in Wien an der Akademie der Wissenschaften eine Ausschreibung für die beste Darstellung des Vulgärlateins (1860) (cf. Kiesler 2006:9). Der Begriff geht also auch im Deutschen nicht auf Schuchardt zurück, doch kann er, vor allem was die romanistische Forschung anbelangt, als Anfangspunkt für eine intensive und vor allem systematische Beschäftigung mit diesem Sujet gesehen werden.
Abgeleitet ist der Begriff ‚Vulgärlatein‘ (wie auch ‚Volkslatein‘) von vulgaris sermo , der bereits in der anonymen Rhetorica ad Herennium (IV, 56 (69) belegt ist, aber vor allem bei Cicero ( Acad. I, 5) in der Bedeutung ‚Sprache des Volkes‘ bzw. ‚Umgangssprache‘ in erster Linie im Zuge einer rhetorischen Klassifizierung von Sprachstilen häufig verwendet wurde.
Omnes rationes honestandae studiose collegimus elocutionis: in quibus, Herenni, si te diligentius exercueris, et gravitatem et dignitatem et suavitatem habere in dicundo poteris, ut oratorie plane loquaris, ne nuda atque inornata inventio vulgari sermone efferatur. ( Rhet. ad Her. IV, 56 (69); 1994:316–318)
[…] didicisti enim non posse nos Amalfinii aut Rabirii similes esse, qui nulla arte adhibita de rebus ante oculos positis vulgari sermone disputant, […]. (Cicero, Acad. I, 5; 1990:272)260
Bei Kiesler (2006:7) wird im Zuge eines Abrisses zur Begriffsgeschichte mit Verweis auf Geckeler/Dietrich (2003)261 eine Übernahme des deutschen Begriffes ‚Vulgärlatein‘ bei Schuchardt aus der französischen Wissenschaftstradition gemutmaßt, mit dem zusätzlichen Hinweis auf einen Erstbeleg im Trésor de la langue française von 1524 (ohne weitere Angaben) sowie eine weitere vorsichtige Mutmaßung mit Verweis auf den begriffsgeschichtlichen Überblick bei Ettmayer (1916:231) zu einer terminologischen Filiation ‚Italienisch – Französisch – Deutsch‘.
Diese These läßt sich problemlos erhärten, wenn man sich einerseits die allgemeine Begriffsgeschichte von lat. ( lingua ) vulgaris im Sinne von ‚Volksprache‘ vor Augen führt, die von Brunetto Latini (ca. 1220–1294; Li livres dou tresor , ca. 1265: vulgar parleure ) über Dante Alighieri (1265–1321; De vulgari eloquentia , 1302–1305: vulgaris locutio ; Convivio , 1306: volgare ) und Joachim du Bellay (1522–1560; Deffence et Illustration de la Langue Francoyse , 1549: vulgaument ) zu Johann Gottfried Herder (1744–1803; Ideen zur Geschichte und Kritik der Poesie und der bildenden Künste , 1794–196: Vulgar- und Pöbelsprache ) führt (cf. Ueding 2009:1245–1246) und andererseits die in vorliegender Arbeit (cf. infra) untersuchte Diskussion um die Sprache der römischen Antike, in der der Begriff seit Flavio Biondo (1392–1463; De verbis romanae locutionis , 1435) in diesem Sinne Verwendung findet (hier noch auf Latein: vulgare ) und schließlich nach einer Reihe weiterer Debatten über eineinhalb Jahrhunderte bei Celso Cittadini (1553–1627; Trattato della vera origine , 1601: latino volgare ) präzisere Form gewinnt. Ergänzt man dies durch die Angabe im TLF, hinter der sich die Schrift Le Blazon des Hérétiques (1524) von Pierre Gringore (1475–1539) verbirgt,262 sowie durch einige Meilensteine in der französischen Forschungsdiskussion der folgenden Jahrhunderte wie Pierre-Nicolas Bonamy (1694–1770; Mémoire sur l’introduction de la langue Latine dans les Gaules, sous la domination Romains , 1751)263 und Claude Fauriel (1772–1844; Histoire de la poésie provençale , 1846),264 so schließt sich der Kreis. Grundlage der Verbreitung des Begriffs ist also der enge Kulturaustausch zwischen Italien und Frankreich in der Frühen Neuzeit und schließlich die Übernahme ins Deutsche zu Zeiten des Höhepunktes französischer Dominanz im 17. und 18. Jahrhundert.265
Schuchardt greift also bereits auf eine lange Tradition der Beschäftigung mit dem Vulgärlatein zurück und kann dabei vor dem Hintergrund der neu entstandenen Sprachwissenschaft strictu sensu Begriff und Konzept noch einmal präzisieren und letztlich auch terminologisch im Rahmen einer eigenen Wissenschaft institutionalisieren.
Da die Sprachwissenschaft im Allgemeinen und speziell die lateinische Sprachwissenschaft in den letzten Jahrzehnten einen so bedeutenden Aufschwung genommen hat, so muss es befremden, dass bis jetzt dem Vulgärlatein noch keine eingehende Berücksichtigung zu Theil geworden ist. Es verdient eine solche mit vollstem Rechte. Den Sprachforscher beschäftigt das Werden der Sprache. Ihm bietet daher das ‚gute Latein‘, welches in Folge litterarischer Evolutionen auch aus dem Strome der Sprachentwicklung abgesondert hat und erstarrt ist, ein weit geringeres Interesse, als das ‚schlechte Latein‘, welches sich zu jenem verhält, wie Vielheit zur Einheit und Bewegtes zu Unbewegtem. Das klassische Latein ist durch das Vulgärlatein auf der einen Seite mit den altitalischen, auf der anderen mit den romanischen Sprachen verbunden, sodass wir den Gang des Idioms, welches innerhalb der Mauern Roms seinen Ursitz hatte, ununterbrochen durch mehr als zwei Jahrtausende hin verfolgen können, ein Fall, dem sich wenige ähnliche an die Seite stellen lassen. Ferner sind die rustiken Sprachformen nicht unwichtig als Kriterien sowohl bei der Bestimmung der Zeit von schriftlichen Denkmälern, als bei der Herstellung von Autorentexten aus verderbten Handschriften. (Schuchardt 1866:VII)
Die Aufgabe266 ist – abgesehen von dem äusseren Umstande, dass eine Vereinigung eingehender lateinischer und romanischer Sprachstudien der Tradition zuwiderläuft – allerdings eine sehr schwierige, da der Ausdruck ‚Vulgärlatein‘ strenggenommen nicht eine einzige Sprache, sondern eine Summe von Sprachstufen und Dialekten von der Zeit der ersten römischen bis zur Zeit der ersten wirklich romanischen Schriftdenkmäler bedeutet. Den meisten Zweifeln und Verlegenheiten ist man bei Begründung der Lautlehre ausgesetzt, wo es gilt, die gesprochenen Formen aus ihren schriftlichen Darstellungen richtig zu eruiren und sie bei ihrer oft sich widersprechenden Mannichfaltigkeit richtig zu ordnen. (Schuchardt 1866:IX-X)
Wenn Schuchardt hier moniert, daß das Vulgärlatein bisher noch „keine eingehende Berücksichtigung“ gefunden hätte, dann bezieht sich dies vor allem auf die systematische Auseinandersetzung mit dem, was er darunter versteht. Es gibt jedoch auch eine Forschungstradition der Latinisten, die von Winkelmann (1833) über Rebling (1873) zu Hofmann (1926) reicht,267 in der ein Großteil des nicht-klassischen Lateins unter dem Begriff ‚Umgangssprache‘ abgehandelt wird. Dabei werden ebenfalls Phänomene untersucht und diskutiert, die sich mit denen überschneiden, die bei den Romanisten unter ‚Vulgärlatein‘ figurieren, dennoch sind beide Ansätze nicht deckungsgleich. Für die romanistische Forschung ist die Frage nach der Basis bzw. dem Ursprung der romanischen Sprachen von eminenter Bedeutung sowie die damit verbundene diachrone Perspektive, während die Latinisten tendenziell eher synchron die verschiedenen Arten des Lateins im Blick haben.
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