„Wenn sie aufwacht, können Sie wieder nach Hause gehen. Sie wissen ja, wann die nächste Untersuchung stattfindet“, sagt sie leise zu mir.
„Ja. Danke.“
Und dann geht sie wieder. Mein Blick ruht weiter auf dem Kind. So viele Träume hat sie, so viel kann sie erreichen. Wenn sie doch bloß überlebt. Auf einmal wird mir bewusst, was ich da schon wieder denke und ich beginne mich zu schütteln, schüttle die Gedanken weg. Natürlich wird sie überleben!
Als ich in ihrem Alter war und weit darüber hinaus, hatte ich nur einen Traum: Den Hof und die Plantage meiner Eltern zu übernehmen. Ich komme nicht aus Peking, ich bin vom Land. Mein Ziel war es immer, dort zu bleiben und das zu machen, was mich erfüllt, was mir Freude bereitet: Pfirsichbäume anpflanzen und großziehen. Die Pfirsichplantage hegen und pflegen und die Pfirsiche ernten und verkaufen. Wie meine Eltern es tun. Doch dieser Traum zerplatzte, denn Xiaolong kreuzte meinen Weg. Es war auch höchste Zeit. Ich war bereits achtundzwanzig Jahre alt, galt schon als Restposten. Mit fünfundzwanzig Jahren ist eine Frau in China alt und fast schon unbrauchbar. Das Ziel jeder jungen Frau ist es, bis dahin verheiratet zu sein. Manche bekommen mit zwanzig Jahren schon Panik, finden sich zu alt und glauben, sich mit Schönheitsoperationen attraktiver machen zu können. Meine Eltern schüttelten nur den Kopf über mich und machten sich Sorgen, dass mich keiner mehr mit meinen achtundzwanzig Jahren wolle. Es war pure Schande, die ich in ihr Haus brachte. Ständig musste ich mir anhören, dass ich mich endlich bemühen sollte, einen Mann zu finden, der mir etwas bieten könne, der eine pompöse Hochzeit wolle und mich mitsamt dem zukünftigen Kind versorgen werde. Da kam Xiaolong gerade recht. Rettung in letzter Sekunde. Ich verliebte mich so unglaublich in ihn, dass mir ständig schwindlig war vor Glück. Ich liebte seinen Sinn für Gerechtigkeit und Recht, sein Funkeln in den Augen, sein Lächeln, wenn man ihn endlich einmal zum Lachen bringen konnte. Einfach alles. Doch es wurde schnell klar, dass er nichts vom Landleben hält und ein Stadtmensch ist. Ich wollte ihm überallhin folgen und so ging ich mit ihm nach Peking und ließ meinen Traum sterben. Auch weil man das von mir erwartete, nach meiner langen Suche. Jetzt weiß ich nicht, wofür sich das gelohnt hat. Xiaolong hat nur noch Sinn für Recht und das hat nichts mit Gerechtigkeit zu tun, seine Augen scheinen tot und gelacht hat er seit Jahren nicht mehr. Eigentlich will ich nur zu meinen Pfirsichen. Zusammen mit Maja. Sie würde zwischen den Bäumen laufen und lachen und Pfirsiche klauen. Wenn sie gesund ist, besuchen wir meine Eltern und vielleicht können wir auch länger bei ihnen bleiben, bis wir nach Shanghai ziehen.
Als sie langsam wieder aufwacht und ihre Augen öffnet, lächle ich sie an.
„Weißt du, Maja, als ich so alt war wie du, stellte ich mir vor, dass ich später einmal die Pfirsichplantage meiner Eltern übernehmen werde. Ich sah mich zwischen den Bäumen umhergehen und die Berge betrachten, in aller Stille. Jetzt bin ich hier im lauten Peking und sitze in einem Büro mit tausend anderen Leuten.“
„Was willst du mir damit sagen?“, röchelt sie leise und schaut mich erwartungsvoll an.
„Wenn du wieder gesund bist, musst du deinen Träumen hinterherjagen und sie nicht aufgeben, hörst du?“ Ich klopfe ihr auf die zarte Hand.
„Das ist mein Plan!“ Sie lächelt schwach, dann holt sie nochmals aus: „Ich weiß doch, dass du viel lieber bei deinen Pfirsichen wärst als hier in Peking, du schwärmst die ganze Zeit davon. Vielleicht sollten wir nicht nach Shanghai ziehen, sondern zu Oma und Opa. Mir gefällt es dort doch auch! Dann kannst du deinem Traum auch wieder hinterherjagen.“
Ich schaue sie verwundert an. Für einen kurzen Moment fühle ich Hoffnung in mir aufsteigen. Ein Leben bei den Pfirsichen zusammen mit Maja: Das ist mein Traum und sie träumt auch davon. Aber dann falle ich wieder auf den harten Boden der Realität. Xiaolong würde bei diesem Vorhaben niemals mitmachen.
„Dafür ist es jetzt zu spät“, sage ich, „außerdem brauchst du medizinische Versorgung und die bekommst du eben nur in der Stadt.“
Sie nickt verständnisvoll. Dann steht sie auf und wir verlassen das Krankenhaus wieder. Ich rufe uns ein Taxi, das uns nach Hause bringt. Wir reden nicht mehr davon, doch ich kann beinahe hören, wie wir beide darüber nachdenken.
Es ist später Abend und Maja schläft schon. Ich sitze vor dem Fernseher und sehe irgendeine seltsame Show. Ich schalte auf ein anderes Fernsehprogramm und sehe einen Bericht über Wuhan. Ein Sprecher erzählt, dass hier ein neuartiger Virus ausgebrochen ist. Es seien schon einige Leute damit infiziert worden und auch gestorben, aber es gäbe keinen Grund zur Sorge. Ein Arzt hätte auch schon davor gewarnt. Es soll aber eine Falschmeldung gewesen sein. Ich bin trotzdem beunruhigt und denke an Xiaolong. Ganz hervorragend. Er treibt sich irgendwo in Wuhan herum und schleppt das Virus womöglich noch mit nach Hause. Das können wir jetzt gerade noch gebrauchen. Soll er doch gleich dortbleiben. In diesem Moment höre ich einen Schlüssel in der Tür drehen. Die Tür springt auf und Xiaolong tritt herein. Seine alleinige Anwesenheit löst urplötzlich eine Bedrücktheit in mir aus. Ein Gefühl von Abstoßung – ich mag seine Aura einfach nicht mehr.
„Hallo! Wie war die lange Autofahrt?“, rufe ich ihm zu und versuche diese Gefühle zu ignorieren, zu unterdrücken.
„Hallo! Ganz gut, ganz gut!“ Er zieht sich aus und kommt zu mir herüber.
Er gibt mir einen Kuss auf den Kopf und legt sich zu mir. Ich fühle mich unwohl.
„Hast du von dem Virus in Wuhan gehört?“, frage ich ihn.
„Ja, mein Bruder hat mir davon erzählt. Aber es soll halb so schlimm sein. Es übertreiben alle ein bisschen. Es ist bloß eine Art Lungenentzündung und kann gar nicht von Mensch zu Mensch übertragen werden! Die Regierung hat alles im Griff!“
„Na gut. Hauptsache du hast dich nicht angesteckt“, antworte ich keck und überspiele weiter diese komischen Gefühle.
„Aber nein! Doch leider haben sie die Märkte in Wuhan wegen des Virus seit vorgestern geschlossen. Übertrieben!“ Er blickte kurz ins Leere.
Plötzlich nimmt er die Fernbedienung und schaltet ab. Er sieht mich erwartungsvoll an. In seinen Augen sehe ich ein begieriges Funkeln. Es ist beunruhigend, es ist nicht liebevoll, es macht mir ein bisschen Angst. Ich drehe mich ein Stück von ihm weg und versuche es zu ignorieren. Er beginnt von dem Markt zu erzählen, der leider geschlossen war und wird ganz unruhig. Immer wenn er auf so einem Markt war oder davon berichtet, ist er ganz aufgedreht. Voller Adrenalin. Es ekelt mich an. Plötzlich zieht er an mir, beugt sich auf mich. Sein warmer Atem bläst auf meine Haut. Mir ist, als könnte ich frisches Tierblut an seinen Lippen riechen, obwohl doch der Markt geschlossen war. Er beginnt mich am Ohr und am Hals zu beißen und drückt mich unter sich nieder.
„Ey, hör auf damit!“ Ich versuche mich aus seinem Griff zu befreien. Darauf habe ich gerade überhaupt keine Lust. Doch er macht weiter und zieht an meiner Kleidung.
„Sei doch nicht so bockig!“, flüstert er.
Ich stoße ihn kraftvoll weg und stehe auf, gehe ohne ein Wort weg. Er atmet genervt aus und folgt mir.
„Ling, bleib da!“
Ich begebe mich in unser Schlafzimmer und sage, dass ich müde sei. Trotzig lege ich mich ins Bett und schließe meine Augen. Xiaolong bleibt vor dem Bett stehen und mustert mich. Dann legt er sich neben mich und sagt: „Du bist so anders! Liegt es an Maja? Machst du dir Sorgen?“
Ich drehe mich nicht zu ihm und antworte bewegungslos: „Nein. Wenn du es bemerkt hast, ich bin seit acht Jahren anders. Seit Mulan. Wie du übrigens! Du bist auch völlig anders geworden!“
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