Diesmal wartete sie länger auf Emilies Antwort. Sie schien krampfhaft nachzudenken. »Nein, ich glaube nicht«, antwortete sie schließlich. »Ein Lehrer auf keinen Fall, die kenne ich alle mehr oder weniger. Ein Vater? Vielleicht. Ich hab ja nicht so viel Kontakt zu den anderen.«
Das war untertrieben. Emmi hatte keine Freundin, niemanden, mit dem sie sich nachmittags verabredete. Immer nur das Meer. Das Meer und die Bücher. Wie oft hatte Sylke versucht, Kontakte herzustellen, Emilie dazu zu bewegen, sich mit einer Klassenkameradin zu treffen. Aber Emmi wollte nicht. Absolut gar nicht. Ihre Tochter war ihr zu ähnlich. Inzwischen hatte Sylke längst aufgegeben. Emmi kam jetzt in die 7. Klasse, da konnte sie nicht mehr über ihre Freundinnen bestimmen. Oder Nicht-Freundinnen, wies sie sich selbst zurecht.
Sie verdrängte die Gedanken. »Emmi?« Vorsicht in ihrer Stimme.
»Hmm?«
»Wir waren getrennt. Kannst du mir sagen ...« Sie stockte, hatte selbst Angst vor der Antwort.
»Er hat mir nichts getan.« Emilie nuschelte in das Kissen.
Sylke schloss für einen Moment die Augen. »Wo ... wo hat er dich denn hingebracht?«
»Keine Ahnung.« Jetzt war Emilie besser zu verstehen, sie hatte den Kopf zu ihrer Mutter gedreht. »Ich bin in einem Raum aufgewacht. Auf einer Matratze.«
»Was für ein Raum?« Warum musste sie ihr bloß alles aus der Nase ziehen? Mühsam versuchte Sylke, ihre Ungeduld zu unterdrücken, sie nicht in ihre Stimme zu lassen.
»Es war ein kleines Zimmer, viel kleiner als dies hier. Ein Abstellraum, oder so was.« Endlich schienen Emilie die Wörter leichter über die Lippen zu kommen. Ermutigend drückte Sylke Emmis Hand. Die sprach auch gleich weiter: »Außer der Matratze passte nicht viel rein. Kein Fenster. Ich hab da gelegen, stundenlang. Und irgendwann kam er.«
Sylke hielt die Luft an. »Und dann?«, presste sie heraus, als Emilie nicht weiterredete.
»Er, er ...«
»Ja?« Sylke erstarrte innerlich, wappnete sich für die Antwort, hatte er versucht … »Bitte, Emmi, sag es mir.«
»Er hatte eine Waffe.« Emilie schoss die Wörter heraus, abgehackt.
Sylke stockte der Atem. »Er hat dich mit einer Waffe bedroht?«
Sie spürte Emilie nicken. »Es war eine Pistole, glaube ich, genau wie in den Krimis im Fernsehen. Er hat gesagt, dass ich tun soll, was er sagt, sonst ...«
»Oh Emmi!« Sylke drückte ihre Tochter fester an sich.
»Dann musste ich mir ein Tuch um die Augen binden. Er hat mich am Arm gepackt und wir sind hierhingelaufen.«
»Okay.« Sylke schloss erneut die Augen, versuchte, das Gehörte einzuordnen. »Wie weit war es von dem Raum hierher?«
Emilie zuckte mit den Schultern. »Nicht so weit. Ich bin ein paar Schritte gegangen, dann hat er mich angehalten. Er machte etwas, es hörte sich an, als würde er eine Tür aufschließen. Anschließend mussten wir eine Treppe runtergehen. Links war eine Wand. An der hatte ich meine Hand, um nicht zu fallen. Rechts hielt er mich fest.«
»Gut, Emmi. Dann sind wir, wie ich schon vermutet habe, wohl in einem Keller. Und wenn du oben in einem Raum warst, dann ist das hier bestimmt ein Haus. Ein Haus, in dem er mit einer Waffe ein Mädchen mit Augenbinde herumführen kann. Ein Einzelhaus.« Sylke hatte immer schneller geredet. Viel war das nicht, aber besser als nichts. Ein Mann, ein Haus, eine Waffe.
»Mama?« Emmis Stimme hörte sich auf einmal wieder dünn an.
»Ja?«
»Warum sind wir hier?«
Sylke atmete tief ein. »Ich weiß es nicht«, flüsterte sie. Den Rest wollte sie nicht laut aussprechen: Der Grund, warum ein Mann allein in einem Haus zwei Frauen gefangen nahm. In einem Keller. Man musste kein Genie sein, um sich vorzustellen, was er im Schilde führte. Doch bisher hatte er ihnen noch nichts getan. Eine Schonfrist. Und in dem Moment fasste Sylke einen Entschluss. Sobald er kam, würde sie ihm einen Deal anbieten. Was immer er auch wollte, was immer er verlangte, sie würde sich dem nicht verschließen. Sie würde alles tun, wenn es sein musste, bis sie starb. Aber er musste ihre Tochter gehen lassen.
Sylke umfasste Emilie fester. »Schlaf noch ein bisschen«, flüsterte sie.
Emilie kuschelte sich enger an sie. Und Sylke hielt sie. Sie war froh, dass Emmi ihre Augen nicht sehen konnte, die weitaufgerissen in die Dunkelheit starrten.
13
Sylke schreckte hoch, begriff in der ersten Sekunde nicht, wo sie sich befand. Doch als sie Emilies Atem hörte, kam alles zurück, mit so einer schrecklichen Wucht, dass sie keuchte. Es war noch immer stockdunkel im Zimmer. Wie lange hatte sie geschlafen? Sie wollte sich gerade erneut an Emilie drücken, als das Licht anging. Wie zuvor schnitt der grelle Schein in ihr müdes Gehirn. Auch Emilie war mit einem Schlag wach, schrie erschrocken auf und sprang aus dem Bett, noch ehe Sylke ein Wort sagen konnte. Mit einem Satz war Sylke neben ihr. Gebannt starrten beide auf die Tür, denn von dort kam erneut das kratzende Geräusch, das Sylke auch am Vortag gehört hatte.
Als die Tür sich langsam aufschob und der Bücherstapel krachend umfiel, stellte Sylke sich vor Emilie, verbarg sie hinter sich. Sie nahm seinen Umriss wahr, ein schwarzer Schatten im Türrahmen, die rechte Hand nach vorne gestreckt. Die Pistolenmündung zeigte direkt auf ihr Gesicht.
Er warf etwas vor ihre Füße. Ein dünnes, weißes Plastikband. Kabelbinder. »Emilie soll es dir an die Hände machen. Fest.« Wie selbstverständlich er den Namen ihrer Tochter aussprach! Sylke spürte erneut Galle in ihrem Mund. Ihr war speiübel. Doch sie musste tun, was er wollte. Vielleicht ergab sich so die Gelegenheit, einmal allein mit ihm zu sprechen. Sie klammerte sich an den Gedanken, wagte sich nicht vorzustellen, warum er sie sonst fesseln wollte.
Langsam hob sie das Plastikband auf, legte es sich um die Handknöchel, nickte Emilie zu. Die blickte entgeistert auf ihre Mutter. »Zieh es zu«, flüsterte Sylke beschwörend, »es ist in Ordnung.«
Zögernd fasste Emilie das Ende an, zog ein wenig.
»Fester!« Die Stimme an der Tür klang harsch.
»Es ist in Ordnung«, wiederholte Sylke leise. Emily zog erneut, Sylkes Handflächen lagen nun eng nebeneinander.
»Komm her!« Der Mann winkte Sylke mit der Pistole zu sich. Als sie einen Schritt nach vorne machte, war Emilie sofort hinter ihr. »Du nicht.«
Emilie erstarrte, blickte auf die schwarze Waffe, die er nun auf sie gerichtet hatte, dann irrten ihre Augen im Raum umher, als suchten sie einen Fluchtweg.
»Ich komme gleich wieder.« Sylke gab ihrer Stimme einen festen Klang, doch sie wankte zur Tür. Dort blickte sie schnell zurück, lächelte ihre Tochter an, mit aller Zuversicht, die sie aufbringen konnte. »Ich komme wieder«, rief sie erneut, als er mit der linken Hand die Tür schloss, die rechte mit der Pistole abermals auf sie gerichtet.
»Vorwärts, da hinein.« Er zeigte mit der Waffe auf einen Raum neben ihrem Gefängnis. Die offen stehende Tür war eine ganz normale, stellte Sylke erleichtert fest, zwar auch aus Metall, aber dünner und von innen wie außen mit einer Klinke versehen. In dem Kellerraum befand sich eine Heizungsanlage, ein paar Wäscheleinen waren durch den Raum gespannt. Sie waren in dem Keller eines Einfamilienhauses, da war Sylke sich endgültig sicher.
Sie schaute den Mann an. Mit hochgerecktem Kinn und gerade aufgerichtet blickte sie ihm ins Gesicht. »Ich kenne dich«, sagte sie laut.
Er zuckte zusammen. »Ach ja?«
»Ja.« Sylke schwieg, suchte seine Augen. Emilie hatte Recht, eisblau waren die.
»Es ist mir egal, was du denkst«, antwortete er. »Hier geht es nämlich nicht um dich, sondern um deine Tochter. Emilie.«
Schon wieder. Schon wieder sprach er ihren Namen aus, als würde er sie kennen. Als wären sie befreundet.
Sylke atmete schwer. »Hör zu«, sagte sie, »lass Emilie aus dem Spiel. Ich verspreche dir, dass du alles mit mir tun kannst und ich mich nicht wehre. Nur bitte, lass sie gehen.«
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