Meike Messal - Klippenfall

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Komm schnell. Jemand ist hinter mir her. Als Sylke Harmsen diese SMS von ihrer Tochter bekommt, glaubt sie zuerst an einen Scherz. Wer sollte Emilie an der Steilküste Fehmarns verfolgen? Und warum? Ganz sicher läuft da nur ein harmloser Jogger zufällig in dieselbe Richtung. Doch sie folgt der Bitte ihrer Tochter und eilt zum Katharinenhof. Kurz darauf findet Sylke sich mitten in einem Albtraum wieder. Sie muss um alles kämpfen, was ihr lieb und teuer ist. Ihr Gegner treibt ein diabolisches Spiel mit ihr, schreckt vor keinem Mittel zurück. Nach dem viel gelobten »Düsterstrand« ist dies der zweite Fehmarn-Krimi von Meike Messal. Auch in »Klippenfall« ist Hochspannung garantiert. Ein Muss für alle Liebhaber der Insel, die nach einer atemlosen Urlaubslektüre suchen.

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Doch ihr Kopf war leer, nur die Angst pulsierte hindurch, verdrängte alles andere. Und mit einem Mal wünschte sich Sylke die gnädige Schwärze zurück.

8

Die Erschütterung darüber, dass sie den Laden immer noch geschlossen vorfand, ließ Levke erstarren. Auf dem Weg von der Bäckerei die Straße hinunter hatte sie sich vorgestellt, dass die Tür inzwischen offen stand und sie Sylke ordentlich die Leviten lesen würde. Wie hatte sie ihr nur solche Angst einjagen können!

Doch niemand stand lachend in der Tür, keine Sylke weit und breit, die sie beruhigte. Levke presste die Lippen aufeinander, schüttelte sich und lief dann die Straße zurück, vorbei am Rathaus, an den flanierenden Menschen auf dem Marktplatz weiter Richtung Pfannkuchenhaus. Das befand sich fast gegenüber der Burger Polizeistation, auf die Levke mit immer eiligeren Schritten zusteuerte.

Vollkommen atemlos blieb sie vor dem verschlossenen Eingang stehen und drückte gleich mehrmals hintereinander auf die kleine Klingel, bis ein Summen ertönte. Erleichtert stieß Levke die Tür auf. Links entdeckte sie einen kleinen Schalter mit einer runden Öffnung im Fenster, doch dort saß niemand. Deshalb stürmte sie gleich weiter zu einem Durchgang. In dem Raum dahinter standen zwei Schreibtische Rücken an Rücken, an denen sich ein älterer und ein jüngerer Polizist gegenübersaßen, beide in Uniform. Über dem Gürtel des älteren spannte sich ein beachtlicher Bauch. Er sah auf, als Levke hereintrat und betrachtete sie aus gutmütigen, lebhaften Augen. Der jüngere, schlank, mit einem ordentlich gekämmten Seitenscheitel und Brille, las etwas am Computer und nahm kaum Notiz von ihr.

Der Ältere rollte mit seinem Stuhl näher heran und musterte die verschwitzte Levke. »Goden Dach oog«, sagte er. »Is alles in Ordnung?«

»Nein!« Levke schüttelte so heftig den Kopf, dass ihre Locken in alle Richtungen flogen. »Nichts ist in Ordnung. Meine Freundin ist verschwunden. Und ihre Tochter.«

Jetzt schaute auch der Jüngere auf, Interesse in seinem Blick.

»Verschwunden?« Furchen legten sich auf die Stirn des Älteren. Er deutete auf einen Stuhl, der vor den zusammengestellten Schreibtischen stand. Levke war allerdings zu aufgeregt, um sich zu setzen. Unruhig lief sie durch den Raum. »Wir waren gestern verabredet«, sprudelte sie los, »aber die beiden waren nicht zu Hause. Sie sind auch nicht zurückgekommen. Und jetzt ist Sylkes Laden zu, Sie kennen ihn bestimmt, Fehmarn und Meer.«

»Klaar.« Der Polizist nickte. »Wer kennt den nicht?« Er zog ein Blatt Papier zu sich heran. »Jetzt noch mal von vorne. Wie heißen die beiden und was genau ist passiert?«

Er machte sich Notizen, während Levke erzählte. Als sie geendet hatte, sah sie ihn erwartungsvoll an. Es war allerdings der Junge, der sprach, sein Blick betont gelangweilt: »Die kommen sicher bald wieder.«

»Was?« Levke traute ihren Ohren kaum. »Haben Sie mir nicht zugehört?«

»Doch, habe ich.« Der junge Polizist war aufgestanden und kam lässig herübergeschlendert. Levke sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an.

»Ich fasse mal zusammen«, fuhr er fort. »Eine Mutter und ihre Tochter sind seit einem Tag nicht da. Es sind Schulferien, die Mutter ist überarbeitet. Vermutlich«, er schnaubte, »haben sie sich einfach entschlossen, mal Urlaub zu machen.«

Levkes Fingernägel gruben sich in ihre Hand. Sie beschloss, den Jüngeren zu ignorieren, und richtete all ihre Aufmerksamkeit auf den Älteren. »Ich bin ihre beste Freundin. Sie hätte mir gesagt, dass sie verreisen würde.« Sie sprach mit eindringlicher Stimme. »Und sie würde nie ihren Laden einfach so schließen, mitten in der Hauptsaison. Ohne ein Wort an ihre Kunden, wann sie wieder da ist. Niemals.«

Der Polizist wiegte den Kopf. »Trotz allem kann sie sich spontan entschlossen haben. Das passiert immer wieder. Nachts geht es ihr nicht gut, und sie überlegt sich, am nächsten Tag endlich einmal die lang ersehnte Auszeit zu nehmen. Und dann ist ihr Akku im Handy leer und Frau Harmsen kann Sie nicht erreichen. Haben Sie schon mal mit ihren Eltern gesprochen? Vielleicht hat sie sich bei denen gemeldet.«

»Ihre Eltern sind tot. Sie ist nicht verheiratet. Ich bin ihre engste Bezugsperson.«

Der Jüngere grinste. »Hört sich so an, als könnte sie ’n bisschen Spaß gebrauchen. Kein Wunder, dass sie abgehauen ist.«

Fassungslos rang Levke nach Worten. Was erlaubte sich dieser Grünschnabel? Auch sein Kollege zog die Augenbrauen zusammen. »Nu hol dien Snuut!«, fuhr er ihn an.

»Sie hat eine Tochter, verdammt noch mal«, fauchte Levke, die ihre Stimme wiedergefunden hatte. »Sylke und Emmi verschwinden nicht einfach so. Ihnen ist etwas zugestoßen, das ist klar.«

»Ach, und was? Eine Entführung von zwei Frauen gleichzeitig?« Die Stimme des jungen Polizisten klang inzwischen genervt. »So was passiert auf Fehmarn nicht.« Fast sah es so aus, als wollte er noch »leider« hinzufügen, doch er schwieg.

»Ach nein?« Levke reckte ihr Kinn nach oben. »Vor einigen Jahren wurde ein kleiner Junge entführt, erinnern Sie sich nicht? Das war eine ganz unheimliche Geschichte.« Sie trat einen Schritt nach vorne. »Eine Geschichte, die, wenn ich mich recht erinnere, nicht die Polizei aufgeklärt hat. Sondern ein junges Mädchen, das nach ihrem verschollenen Bruder gesucht hat. Der auch hier auf Fehmarn verschwunden war.«

Der ältere Polizist war aufgestanden, stand nun zwischen Levke und seinem Kollegen. »Jümmers langsam mit den jungen Peer.« Er bedeutete dem Jungen, sich zu setzen, was dieser widerwillig tat. »Eine schreckliche Sache war das«, sagte er dann und strich sich über das Gesicht. »Ich erinnere mich natürlich. Allerdings«, er sah Levke gutmütig an, »nicht zu vergleichen mit dieser hier. Es ist was ganz anderes, ob ein kleines Kind verschwindet oder ob eine Mutter mit ihrer Tochter für ein paar Stunden nicht zu erreichen ist.« Er hob beschwichtigend die Hand, als Levke erneut Einspruch erheben wollte. »Wissen Sie was«, sagte er, »wir fahren gleich einmal bei Frau Harmsen vorbei und schauen, ob wir an ihrem Haus etwas Verdächtiges feststellen. Und Sie melden sich wieder, wenn die beiden in den nächsten Tagen auch nicht auftauchen, in Ordnung?«

»Nein.« Levke wusste, dass sie trotzig klang, aber die Angst legte sich erneut um ihre Brust und machte ihr das Atmen schwer. Wenn die Polizei nichts tat, wer sollte dann den beiden helfen?

In dem Moment klingelte das Telefon und der Ältere nahm ab. Er sprach leise und schnell und wandte Levke den Rücken zu. Auch der Jüngere würdigte Levke keines Blickes mehr. Ein paar Minuten stand sie zitternd am Tresen. Dann drehte sie sich mit einem Ruck um und lief nach draußen.

»Emmi, Sylke, ich lass euch nicht im Stich«, murmelte sie, während sie zum Parkplatz der Inselschule eilte, auf dem sie morgens vor Arbeitsbeginn ihren kleinen Fiat abgestellt hatte. »Egal wo ihr seid, ich werde euch finden.«

Obwohl ihr niemand zuhörte, legte sie alle Zuversicht in ihre Stimme, die sie aufbringen konnte. Doch so sehr sie sich auch anstrengte, in ihrem Gedächtnis kramte: Sie hatte absolut keinen Anhaltspunkt, was mit Sylke und Emmi passiert sein könnte und wo sie jetzt waren.

Wie in Gottes Namen sollte sie die beiden jemals finden?

9

Die nackte Neonröhre strahlte unerbittlich und tauchte den Raum in ein geradezu klinisches Licht. Seit Stunden, so kam es ihr vor, saß Sylke angespannt auf dem Stuhl, den sie so positioniert hatte, dass sie die Tür sehen konnte. Erst hatte sie überlegt, sich in den Sessel zu setzen, doch sie wollte auf keinen Fall wieder einschlafen. Stattdessen hatte sie darüber nachgedacht, ob sich irgendetwas in dem Raum als Waffe benutzen ließ. Sollte sie das dickste Buch nehmen und ihn damit auf den Kopf schlagen? Schnell verwarf sie die Idee wieder. Sie wollte erst wissen, wo Emilie war, bevor sie versuchte, zu kämpfen. Wenn sie ihm unterlag, würde er sie vielleicht töten und ihre Tochter bliebe allein zurück in seiner Hand. Nach einigem Zögern hatte sie jedoch einen Filzstift genommen und ihn unter ihren Pullover an der rechten Hand geschoben. Ein Stift war eine gute Sache, wenn es ihr gelingen würde, ihn direkt in sein Auge zu stechen.

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