Nun saß sie hier, den Stift fest umklammert und mit einem laut knurrenden Magen. Doch noch schlimmer war der Durst. Was würde sie jetzt für ein Glas Wasser geben! Und danach einen großen Becher Kaffee. Der würde wenigstens helfen, wieder klar zu denken.
Dann schlug sie sich vor den Kopf. Natürlich, es gab doch ein Waschbecken in dem Raum. Mit wackeligen Schritten ging sie zu der Waschecke hinüber und drehte am Wasserhahn. Sofort sprudelte klares, kaltes Wasser heraus. Sylke trank es gierig aus ihrer Hand. Dass sie nicht schon vorher darauf gekommen war! Sie schimpfte im Stillen mit sich selbst. Sie durfte sich jetzt nicht gehen lassen, sie brauchte mehr denn je all ihre Sinne. Als ihr Blick auf die Toilette fiel, zögerte sie. Sie musste dringend. Doch was, wenn es hier eine Kamera gab, die sie nicht entdeckt hatte? Oder er genau in dem Moment zur Tür hereinkam, wenn sie mit heruntergelassener Hose dastand? Diese Blöße wollte sie sich nicht geben. Doch sie hielt es nicht mehr aus, setze sich schnell und sprang genauso hektisch wieder auf, sobald sie fertig war. Jetzt schnell zurück zum Stuhl. Vorbereitet sein.
Sylke setzte sich kerzengerade hin und starrte auf die Tür. Die Minuten verstrichen, wurden zu Stunden, jegliches Zeitgefühl war ihr abhandengekommen. Sie wurde müde, ihr Kopf rutschte immer wieder nach vorne und dann schreckte sie jedes Mal hoch. Deshalb wusste sie im ersten Moment auch nicht, ob sie träumte, als sie ein kratzendes Geräusch vernahm. Sofort richtete sie sich auf, konzentrierte sich. Ja, es kam eindeutig von der Tür.
Sylkes Herz begann zu rasen, Adrenalin rauschte durch ihren Körper. Sie sprang auf, stellte sich hinter den Stuhl, den rechten Fuß nach vorne, Arme angewinkelt. Die Tür öffnete sich. Langsam. Wie hypnotisiert folgten Sylkes Augen der schweren Metallplatte, die sich Zentimeter für Zentimeter in den Raum fraß. Die Spitze eines schwarzen Turnschuhs folgte, dann ein Bein, schließlich der ganze Körper. Direkt danach fiel die Tür krachend zu.
Sylke blinzelte. Ihre Augen tränten und mit einer schnellen Bewegung wischte sie darüber. Das konnte nicht sein ... das war nicht er ... aber ...
»Mama!« Emilie war mit drei Schritten bei ihr, umarmte Sylke so heftig, dass sie schwankte. Sie versuchte, ihren Halt wiederzufinden, sog gierig den Geruch ein, der sie traf, Emmis Geruch, der Geruch ihrer Tochter. Vorsichtig, als könnte sich Emmi als eine Fata Morgana erweisen, hob sie ihre Hand, strich über das blonde Haar.
Emilie umklammerte sie. So standen sie da, regungslos. Schließlich löste sich Emmi von ihr. Sylke legte ihre Hand auf die Wange ihrer Tochter, schaute sie an. »Ist alles in Ordnung?«, flüsterte sie. »Hat er dir irgendetwas getan?«
Emilie schüttelte stumm den Kopf.
Eine Welle der Erleichterung durchflutete sie. Sie schob Emilie zum Bett, setzte sich direkt daneben, Bein an Bein. Emilie blickte mit großen Augen in das Zimmer.
Sylke nahm ihre Hand. »Wo warst du? Was ist passiert?«
Doch Emilie antwortete nicht. Sie starrte weiterhin wie gelähmt in den Raum, anscheinend ohne etwas wahrzunehmen. Sylkes Erleichterung löste sich auf, verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Das hier war nicht ihre Emilie. Dieses Mädchen hatte Angst und stand eindeutig unter Schock.
»Schon gut. Schon gut, meine Süße!« Sie rückte an ihre Tochter heran, umfasste sie mit beiden Armen. Erst da fiel ihr auf, dass Emmi einen Rucksack trug. Vorsichtig löste sie die Schulterriemen. Emilie ließ das teilnahmslos geschehen, jegliche Energie schien aus ihr gewichen zu sein. Die Tasche war schwer, Sylke stellte sie auf den Boden und öffnete den Reißverschluss. Sie war voll mit Essen. Zuerst holte Sylke eingepackte Brote heraus, dann Äpfel und Bananen. Zum Schluss zwei Tafeln Schokolade, Alpenmilch und Haselnuss. Außerdem befand sich noch eine Flasche Eistee darin und zu guter Letzt beförderte sie Cola ans Tageslicht. Obwohl sie es nicht wollte, knurrte ihr Magen laut auf.
»Hast du Hunger?«, fragte sie. Emilie schüttelte den Kopf. Bis auf »Mama« ganz zu Beginn hatte sie noch kein Wort gesprochen, stellte Sylke beunruhigt fest.
Sie schob das Essen zur Seite und nahm ihre Tochter erneut in den Arm. »Es wird alles gut«, flüsterte sie, vergrub sich in Emilies Haaren und sog den vertrauten Geruch in sich auf. »Wir sind zusammen, jetzt kann uns nichts mehr passieren, ich verspreche es dir.« Sie zwang sich, ruhig zu atmen. Sie wollte alles wissen: Wo Emilie gewesen war, was er mit ihr gemacht hatte, ob er irgendetwas zu ihr gesagt hatte, das darauf hinwies, warum sie beide hier waren. Doch Emilie würde jetzt nicht reden. Sie musste ihr Zeit lassen, Sicherheit geben. Eine Sicherheit, die sie selbst nicht verspürte. Sylke drückte sie fest an sich, hielt sie umschlungen. Sie merkte, wie Emilie sich langsam entspannte, sich in sie hineinkuschelte, als wollte sie in ihr verschwinden.
Alles wird gut. Immer wieder wiederholte Sylke das Mantra in ihrem Kopf. Sie hielt ihre Tochter im Arm, das war das Einzige, das zählte. Jetzt musste sie nur noch herausbekommen, wo sie waren, und es schaffen, zu flüchten. Irgendwann würde dieser Mistkerl ja mal auftauchen. Sylke hielt die Augen weit geöffnet. Sie würde über Emilie wachen und bereit sein, sobald er den Raum betrat.
10
Nicht nur ihre Schönheit hatte er bemerkt. Seit einigen Wochen beobachtete er sie nun schon. Jede Pause. Inzwischen hatte er herausgefunden, dass sie zwei Jahrgänge über ihm war. Er bewunderte nicht nur ihre langen Haare, die ihn an hellglitzerndes, goldenes Meer im Sonnenschein erinnerten, nicht nur ihre kleinen Brüste, auf die er, selbst wenn er es nicht wollte, immer wieder schauen musste. Aber da waren auch ihre langen, schmalen Beine, die aussahen, als sei sie ein Reh, jederzeit bereit, davonzulaufen und im Dickicht zu verschwinden. Ihre blauen Augen, die er noch nie lachend gesehen hatte. Sie schauten nachdenklich, manchmal traurig. Ihre Haltung. Sie stand ein wenig vornübergebeugt, als wollte sie sich an etwas anlehnen, Halt suchen.
Und sie war allein. Genau wie er. In der Pause ging sie immer in eine bestimmte Ecke, sogar, wenn es regnete und die anderen die Regenpause im Schulgebäude genossen. Sie hingegen ging hinaus, egal ob ein Sturm peitschte oder die Sonne vom Himmel stach. Wie unbeteiligt stand sie am selben Fleck.
Aber je länger er sie beobachtete, desto mehr merkte er, dass sie nicht so teilnahmslos war, wie sie wirkte. Sie sah alles. Inzwischen glaubte er, dass sie auch ihn bemerkt hatte. Seitdem hoffte er inständig auf ein Zeichen. Schließlich ging es ihnen doch beiden gleich – die anderen mieden sie, machten einen Bogen um sie, als wären sie Aussätzige. Sie allerdings sah nie in seine Richtung.
Er versuchte herauszubekommen, warum sie so allein war. Bei ihm, ja, das konnte er verstehen, klein und unscheinbar wie er war. Alle verehrten seinen großen Bruder, jedenfalls die Jungen in seinem Alter. Die Erwachsenen allerdings konnten ihn nicht leiden, doch wen interessierten schon die Alten.
Aber sie? Sie war schön, und klug war sie bestimmt auch. Warum nur hatte sie keine Freundinnen? Je mehr Tage ins Land gingen, desto mehr reifte in ihm eine Einsicht: Es musste so sein, weil sie es wollte. Sie hatte sich entschieden, allein zu sein. Sein Respekt vor ihr wuchs. Im Gegensatz zu ihm, der gesehen werden wollte, der sich nichts sehnlicher als einen Freund – noch besser, eine Freundin – an seiner Seite wünschte, hatte sie sich bewusst dagegen entschlossen.
Seitdem sah er sie mit anderen Augen. Das war keine Trauer in ihrem Blick, sondern Desinteresse an der Welt. Bestimmt suchte sie niemanden zum Anlehnen, sondern war nach vorne gelehnt, weil sie bereit war, zu kämpfen. Ein Boxer im Ring unter Hochspannung.
Er versuchte, so zu werden wie sie. Beherrscht und unnahbar. Wer sagte schon, dass man zum Glück mehr als sich selbst brauchte? Ihm gelang es nicht, noch nicht? Aber sie schien zufrieden zu sein, glaubte er.
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