Meike Messal - Klippenfall

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Komm schnell. Jemand ist hinter mir her. Als Sylke Harmsen diese SMS von ihrer Tochter bekommt, glaubt sie zuerst an einen Scherz. Wer sollte Emilie an der Steilküste Fehmarns verfolgen? Und warum? Ganz sicher läuft da nur ein harmloser Jogger zufällig in dieselbe Richtung. Doch sie folgt der Bitte ihrer Tochter und eilt zum Katharinenhof. Kurz darauf findet Sylke sich mitten in einem Albtraum wieder. Sie muss um alles kämpfen, was ihr lieb und teuer ist. Ihr Gegner treibt ein diabolisches Spiel mit ihr, schreckt vor keinem Mittel zurück. Nach dem viel gelobten »Düsterstrand« ist dies der zweite Fehmarn-Krimi von Meike Messal. Auch in »Klippenfall« ist Hochspannung garantiert. Ein Muss für alle Liebhaber der Insel, die nach einer atemlosen Urlaubslektüre suchen.

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Bis zu jenem Tag kurz vor den Sommerferien. Der Tag, an dem er begriff, dass sie noch viel schlimmer dran war als er. Viel, viel schlimmer.

11

Irgendwann war Emilies Atem langsamer und gleichmäßiger geworden. Voller Erleichterung darüber, dass ihre Tochter eingeschlafen war und so der Hölle wenigstens für kurze Zeit entkommen konnte, murmelte Sylke ein Danke in den Raum, ohne zu wissen, an wen sie es eigentlich richtete. Behutsam bewegte sie ihr rechtes Bein, gefühlte tausend Ameisen krabbelten darin herum. Dann griff sie zur Cola-Flasche, Koffein war jetzt genau das Richtige. Und weil sich ihr Magen erneut meldete, öffnete sie ebenfalls eine Packung der Brote. Es waren sechs Stück, da würde genug für ihre Tochter bleiben.

Sie hatte das erste Brot gerade aufgegessen, als das Licht erlosch. Sylke zuckte zusammen und streichelte dann schnell über Emilies Haar, weil die ihren Kopf unruhig hin und her warf. »Schhh«, wisperte sie. Angestrengt versuchte sie, sich an die Dunkelheit anzupassen, etwas zu erkennen. Aber wie auch schon zuvor sah sie die Hand vor Augen nicht. »Ob es Nacht ist?«, überlegte sie. Ohne Uhr und völlig übermüdet war es ihr nicht mehr möglich, nur ansatzweise zu sagen, wie spät es war. Er hatte sie und Emilie am Sonntagabend gefangen genommen. Als sie in dem Raum aufgewacht war, war es stockdunkel gewesen. Angenommen, er ahmte die natürliche Zeit nach, hatte sie die Nacht, dann den Montag hier verbracht und Emilie musste am frühen Montagabend zu ihr gekommen sein. Sylke beschloss, sobald das Licht anging, den Block zu nehmen und die Daten darauf zu notieren. Morgen wäre also Dienstag und sicherlich suchte man bereits nach ihnen. Bestimmt hatte Levke Alarm geschlagen. Bei dem Gedanken beruhigte sich ihr Herzschlag ein wenig.

Eine drückende Müdigkeit legte sich auf ihren Körper. Jetzt, wo sie einigermaßen satt war und Emilies regelmäßigen Atem hörte, konnte auch die Cola die furchtbare Mattheit nicht vertreiben. Krampfhaft versuchte sie, ihre Lider nicht zu schließen, dem Schlaf zu trotzen, falls er kommen und sich eine Möglichkeit zur Flucht ergeben würde. Was aber, wenn er sich gar nicht blicken ließ? Erst in mehreren Tagen kam? Sie konnte nicht tagelang die Augen offen halten. Dann würde sie so erschöpft sein, wenn er erschien, dass sie nicht klar denken konnte, geschweige denn fliehen. Vorsichtig legte sie Emilies Kopf von ihren Beinen auf das Bett und schob das Kissen darunter. Emilie seufzte, wachte aber nicht auf. Hoffentlich träumt sie vom Meer, dachte Sylke, stand langsam auf und streckte ihren verkrampften Körper. Sie tastete sich bis zu dem Regal, nahm einen Stapel Bücher heraus und kroch mit ihnen unter dem Arm an der Wand entlang zur Tür. Sorgsam stapelte sie einen hohen Turm direkt an das Metall. Sollte er die Tür auch nur einen Spalt öffnen, würden die Bücher mit einem lauten Getöse umfallen und sie wecken. So konnte er sie wenigstens nicht im Schlaf überraschen.

Sie tastete sich zum Bett zurück, erfühlte die Decke und zog sie sanft bis zu Emilies Schultern hoch. Plötzlich sah sie die rosa Feen darauf vor sich. Ihr wurde übel, sie würgte, ein bitterer Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus. Sie versuchte, die dunklen Gedanken zu verdrängen, die sich erneut in ihrem Kopf breitmachten. So vorsichtig wie möglich kletterte sie über ihre Tochter, legte sich hin und schmiegte sich eng an sie. Das Bett war schmal, ein Bett für eine Person. Egal. »Schlaf jetzt«, ermahnte sie sich selbst. Aber sobald sie lag, war sie mit einem Mal hellwach. Ein dunkler Raum. Ein Bett. Zwei Frauen. Und irgendwo ihr Entführer. Was wollte er von ihnen? Warum gerade sie? Und wieso kam er ihr bloß so bekannt vor?

Erneut ging Sylke alle Männer durch, die eine Rolle in ihrem Leben spielten. Gespielt hatten. Viele waren das nicht gewesen und jetzt war sie schon länger allein. Irgendwie schaffte sie es nie, eine intensive Bindung aufzubauen. Sie war schnell genervt von enger Zweisamkeit, vermisste es, alles selbst entscheiden und bestimmen zu können, kompromisslos. Wahrscheinlich, weil sie es nicht anders gewohnt war, dachte sie manchmal bitter. Sie und Emmi waren sich ähnlicher, als sie zugeben wollte. Einzelgängerinnen. Dass sie seit der Schulzeit in Levke so eine gute Freundin gefunden hatte, die zu ihr hielt mit all ihren Macken, das war wirklich ein Geschenk.

Kai war einer ihrer wenigen männlichen Freunde. Obwohl »Freund« schon zu viel war, eher ein guter Bekannter. Kai, sein bester Kumpel Udo, Levke und sie gingen manchmal zusammen ein Bier trinken. Na ja, sehr selten. Denn Sylke hatte kaum Zeit. Der Laden, Emilie – da fiel sie am Wochenende meist einfach nur erschöpft aufs Sofa und freute sich, wenn sie es schaffte, nicht vor zehn Uhr abends einzuschlafen. Kai und Udo waren echte Nordlichter, rau im Ton, aber das Herz am rechten Fleck. Manchmal glaubte sie, dass Kai auf sie stand, jedoch wusste, dass seine Zuneigung von ihr nicht erwidert wurde. Er war nie verheiratet gewesen, überhaupt konnte sich Sylke nicht daran erinnern, dass er jemals eine Freundin gehabt hatte. Zwar redete er mal hier und da von einer Bekanntschaft, aber Sylke hatte das Gefühl, dass er das mehr aus Prahlerei tat und er ihr imponieren wollte. Er hatte allerdings verstanden, dass es mit ihnen niemals etwas werden würde.

Was für eine Truppe ... Eine beziehungsunfähige Frau, ein Mann, der vielleicht noch Jungfrau war – wer wusste das schon? Ein gutmütiger Nordbär und eine lebenslustige Levke, die irgendwie nicht hineinpasste und gerade deshalb den Laden zusammenhielt. Nein, unmöglich, dass Udo und Kai etwas mit der Sache zu tun hatten.

Sylke versuchte, sich an all die Touristen zu erinnern, die in den letzten Wochen in ihrem Laden gestöbert hatten. So viele hatten sich dort umgesehen. Obwohl sich eigentlich mehr Frauen zu ihr verirrten. Welche Männer hatten bei ihr eingekauft? Da war einer gewesen, der gleich zehn Taschen gewollt hatte. Und ein anderer, der sich stundenlang nicht für einen Schal entscheiden konnte. Und der, der sie fast einen ganzen Vormittag auf Trab gehalten hatte, sich alles zeigen ließ, um zum Schluss nur mit einer Taschentuchhülle für fünf Euro zu gehen. Keiner von denen hatte auch nur annähernd so ausgesehen wie der Mann, der sie verschleppt hatte.

»Du musst dich erinnern!« Sie presste eine Faust an ihre Schläfe. Aber so sehr sie in ihrem Gedächtnis kramte, sie fand sein Gesicht nirgendwo.

12

Sylke erwachte, weil sie nicht genügend Luft bekam. Erschrocken keuchte sie auf, setzte sich ruckartig hin. Emilies Arm rutschte von ihr herunter. Puhh, es war bloß Emmi gewesen, sie hatte im Schlaf nach ihr gegriffen, zu fest, wie eine Klammer. Sie hörte, wie ihre Tochter sich bewegte. Dann ihre zögerliche Stimme: »Mama?«

»Ich bin hier.« Sofort tastete sie nach Emilies Hand, drückte sie. Es war noch immer stockdunkel. »Ich bin hier«, wiederholte sie, schmiegte sich an ihre Tochter und umfasste sie, hielt sie.

»Ich dachte für einen Moment, ich hätte all das nur geträumt.« Emmis Stimme klang dünn, ein Papier, kurz davor zu zerreißen.

»Es ist alles gut. Wir sind zusammen.« Sylke versuchte, zuversichtlicher zu klingen, als sie war.

Emilie durchschaute sie sofort. »Nichts ist gut. Irgendjemand hält uns hier gefangen.«

Sylke drückte Emmi an sich. Sie war froh, dass ihre Tochter endlich wieder sprach. »Kennst du ihn?«, fragte sie schnell. »Ich glaube, dass ich ihn schon mal gesehen habe. Ich erinnere mich nur nicht, wo.« Als Emilie nicht antwortete, musste Sylke schlucken. Bitte, lass sie nicht wieder schweigen, dachte sie.

»Ich ... ich ... bin mir nicht sicher.« Emilie flüsterte.

»Okay. Das macht nichts. Wir finden es heraus!« Sylke streichelte über Emilies Hand, dankbar dafür, dass ihre Tochter überhaupt etwas sagte. »Ich habe ihn schon mal gesehen, glaub ich, und du vielleicht auch«, sinnierte sie, »dann kommt er bestimmt aus deinem Umfeld. Schule, wahrscheinlich. Kann es ein Vater sein? Ein Lehrer?«

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