Einen Moment musterte er sie. Sylke sah seine Augen über ihren Körper wandern. Dann wandte er sich abrupt ab. »Ich will nichts von dir«, sagte er heiser.
Ihr war sofort klar, dass er log. Sie hatte seinen Blick bemerkt, hörte das Verlangen in seiner Stimme. Erleichterung überschwemmte sie. »Ich gehöre dir«, wiederholte sie und ging einen Schritt auf ihn zu. »Alles, was du willst, versprochen. Nur Emilie musst du gehen lassen, das ist meine einzige Bedingung.«
Er lachte auf. »Es ist nicht an dir, Bedingungen zu stellen. Und wie gesagt, du interessierst mich nicht.« Er drehte sich ein wenig von ihr weg, doch die Waffe zeigte immer noch direkt auf sie. Konnte sie ihn mit gefesselten Händen überwältigen? Sylke schluckte, ihre Gedanken überschlugen sich. Warum hatte sie nie Judo gelernt, Karate oder sonst etwas? Nur laufen, das konnte sie, das war das Einzige, was sie beherrschte.
»Was möchtest du von meiner Tochter? Wieso ist sie hier?« Statt ihrer Fäuste schleuderte Sylke ihm die Fragen ins Gesicht.
Er schwieg.
»Ich weiß, dass du mich magst, ich habe deine Blicke gesehen.« Sylke redete weiter, mit aller Überzeugung, die sie aufbringen konnte. »Wieso willst du sie haben und nicht mich? Ich kann dir viel mehr geben, ich bin eine Frau. Alles, was ein Mann sich nur wünschen kann.« Erneut ging sie einen Schritt nach vorne, versuchte zu lächeln.
»Bleib stehen!« Er stand breitbeinig vor ihr, sein Gesicht todernst. »Hier geht es nicht um Sex, kapierst du das denn nicht?«
Überrascht hielt Sylke inne. »Ich weiß nicht, worum es geht, wenn du es mir nicht erklärst.«
Er schwieg erneut. Sylke bemerkte kleine Schweißperlen auf seiner Stirn. »Du hättest nicht kommen sollen«, sagte er schließlich. Seine Stimme war nicht mehr heiser, sondern tonlos.
»Was?« Sylke verstand nicht.
»An den Strand. Zu Emilie.« Er sah sie an und fast wirkte sein Blick vorwurfsvoll. »Ich wollte doch nur sie.«
Bei den letzten Worten zeigte sein Gesicht eine grimmige Entschlossenheit und mit plötzlichem Entsetzen begriff Sylke, dass sie ihn nicht überzeugen konnte. Sie wusste nicht, was er von Emilie wollte. Sie wusste nicht, wer er war. Aber eines wusste sie in dieser Sekunde mit aller Sicherheit: Sie war überflüssig in seinem Spiel. Sie würde diesen Raum nicht lebend verlassen.
14
Laura. Levke war der Name nicht gleich eingefallen, sie hatte erst googeln müssen. Viele Zeitungsberichte hatte es damals zu dem Fall gegeben, zu den verschwundenen Jungen und zu Laura, die ihren Bruder gesucht hatte und selbst ein Opfer des Entführers geworden war. Ja, Laura Wiegand. Levke scrollte durch die Internetseiten. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie gelesen hatte, dass Laura auf die Insel gezogen war. Genau, hier stand es. Ein kleiner Bericht nur, die Artikel waren im Laufe der Zeit immer weniger geworden, aber er enthielt die Informationen, die sie haben wollte: Laura lebte mit ihrer Familie in Neue Tiefe, dort, wo sie und ihre Eltern damals jeden Sommer den Urlaub verbracht hatten. Erinnerungen an glücklichere Tage.
Levke wusste, dass ihre Idee verrückt war. Aber sie hatte den Fall genau verfolgt, und Laura hatte ebenfalls ohne jeglichen Anhaltspunkt die Suche auf Fehmarn begonnen. Trotzdem hatte sie so viel herausbekommen und dieses schreckliche Monster, das die Jungen gefangen hielt, schließlich gefunden und gestellt.
Levke musste es einfach versuchen! Zwar fand sie keine genaue Adresse von Laura im Telefonbuch, noch nicht einmal eine Nummer konnte sie über das Internet finden, aber Neue Tiefe war nicht so groß. Sie würde bestimmt in Erfahrung bringen, wo Laura wohnte. Doch zuerst wollte sie noch einmal bei Sylke vorbeifahren.
Levke hatte wieder schlecht geschlafen, sich unruhig hin und her gewälzt. All ihre Anrufe und Nachrichten waren unbeantwortet geblieben. Am frühen Morgen hatte sie sich in der Bäckerei krankgemeldet. Ihr schlechtes Gewissen über diese Lüge versuchte sie damit zu beruhigen, dass sie jetzt, da ihre beste Freundin mit deren Tochter verschwunden war, schließlich keine Brötchen verkaufen konnte!
Mit ihrem roten Fiat düste Levke von Landkirchen los in Richtung Katharinenhof, zu Sylkes kleinem, aber sehr gemütlichen Haus. Es lag still und verloren da. Schon als Levke vor dem Haus parkte, spürte sie die Leere. Sylke hatte im Sommer normalerweise bereits morgens die Fenster weit geöffnet, ließ die Meerluft und die Sonne ein. Auf Levkes stürmisches Klingeln antwortete niemand. Levke ging um das ganze Haus, schaute in jedes Fenster. Fluchte, dass Sylke ihr nie einen Ersatzschlüssel gegeben hatte. Aber Sylke war selten im Urlaub, hatte keine Haustiere. Wozu musste man dann Schlüssel tauschen?
Doch es war auch so ganz offensichtlich: Emmi und Sylke waren nicht da. Für dieses Wissen brauchte sie das Haus nicht betreten. Seufzend stieg sie wieder in ihren Fiat, klopfte nervös auf das Lenkrad. Also nach Neue Tiefe. Ihre letzte Hoffnung.
Sie fuhr an weiten, duftenden Getreidefeldern vorbei, wich Radfahrern aus, die in Scharen unterwegs waren. Kurz hinter dem Ortsschild stellte sie ihren Wagen ab. Nachdem sie sich umgeschaut hatte, ging sie auf eine ältere Frau zu, die in einem Garten werkelte und an wunderschönen rosaleuchtenden Rosen herumschnitt.
»Dach oog!«, rief sie ihr zu. »Ich suche Laura Wiegand. Können Sie mir sagen, wo sie wohnt?«
Die Frau schaute stirnrunzelnd auf und musterte Levke ausgiebig. »Was wollen Sie denn von ihr?« Die Stimme war skeptisch, aber nicht unfreundlich.
»Sie ist eine Freundin meiner Freundin, von Sylke ...« Levke lächelte breit und wunderte sich wieder, wie leicht Lügen manchmal über die Lippen kamen. »Ihr gehört der Laden Fehmarn und Meer in Burg, den kennen Sie doch bestimmt?«
»Natürlich!« Die Frau kam näher, die Gartenschere wedelte durch die Luft. »Meine Tochter hat mir so ein wunderschönes Halstuch geschenkt. Lauter Vögel darauf. Selbst genäht, habe ich gehört.«
Levke nickte eifrig. »Genauso eins habe ich auch. Sylke macht das alles selbst, sie entwirft auch die Muster und Schnitte.«
Die Frau schien gar nicht zu merken, dass es nicht mehr um Laura, sondern um Sylke ging, vielleicht war sie aber auch durch die Gedanken an ihre Tochter abgelenkt. Sie zeigte mit ihrem Gartenhandschuh nach rechts. »Die Straße da rein, dann die erste links und da gleich das erste Haus. Schöne Pflanzen hat sie, blaue Kornblumen und ein Meer von Dahlien, das können Sie nicht übersehen.«
Dankend eilte Levke zu ihrem Auto und trat so heftig aufs Gas, dass der Motor aufheulte. Sie erkannte das beschriebene Haus sofort, denn die Blumenpracht fiel tatsächlich ins Auge.
Die Sonne schien, nur kleine Wolken sprenkelten den blauen Himmel, und auch in diesem Garten war eine Frau über die Blumen gebeugt. Ein paar Schritte neben ihr spielte ein Kind mit einem Ball. Puh, sie hatte Glück, hier auf Anhieb jemanden anzutreffen.
Langsam ging Levke auf die Frau zu und betrachtete sie dabei. Die lockigen braunen Haare klebten verschwitzt an ihrer Stirn. Immer wieder strich sie sie mit ihren Händen, die von Erde verkrustet waren, hinter das Ohr. Dadurch hatte sich in ihr Gesicht eine feine schwarze Linie gezogen. Sie war älter als auf den Fotos in der Zeitung, natürlich. Doch sie war es, Laura, daran gab es keinen Zweifel.
Levke blieb an dem weißen Zaun stehen. »Entschuldigen Sie«, sagte sie und lächelte das strahlendste Lächeln, das sie aufbringen konnte, »ich bin Levke. Meine beste Freundin und ihre Tochter sind verschwunden und ich weiß einfach nicht mehr weiter. Ich kenne Ihre Geschichte. Bitte, können Sie mir helfen?«
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